Bipolare Störungen: Tierversuche und tierversuchsfreie Forschung
Bipolare Störungen gehören zu den schwerwiegenden psychischen Erkrankungen, die das Leben der Betroffenen und ihrer Angehörigen erheblich beeinflussen. Sie sind durch extreme Stimmungsschwankungen gekennzeichnet, die von manischen Hochphasen bis hin zu depressiven Tiefpunkten reichen, und betreffen weltweit etwa 1 bis 3 % der Bevölkerung (1). Trotz intensiver Forschung sind die genauen Ursachen der bipolaren Störung noch immer nicht vollständig geklärt. Dies erschwert die Entwicklung effektiver Behandlungsmethoden. Zudem wird nach wie vor überwiegend mit sogenannten Tiermodellen an neuen Therapien geforscht. Dieser Beitrag zeigt, warum Tierversuche nicht zielführend sind und welche modernen, auf den Menschen fokussierten Methoden besser geeignet sind.
Die bipolare Störung ist eine psychische Erkrankung, die durch extreme Stimmungsschwankungen gekennzeichnet ist. Betroffene durchleben abwechselnd Phasen von Manie (euphorische, übermäßig aktive Stimmung) und Depression (tiefe Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit). Manische Episoden sind häufig geprägt von gesteigertem Selbstbewusstsein, erhöhter Risikobereitschaft und Schlaflosigkeit, während depressive Phasen oft von Gefühlen der Wertlosigkeit, Hoffnungslosigkeit sowie einem Verlust von Interessen und Aktivität begleitet werden. Zwischen diesen Episoden kann eine stabile bzw. „normal“ schwankende Stimmung auftreten.
Verfügbare Behandlungsmöglichkeiten
Die Behandlung der bipolaren Störung besteht in der Regel aus einer Kombination von medikamentöser Therapie und Psychotherapie. Häufig eingesetzte Medikamente sind Stimmungsstabilisatoren wie Lithium, Antipsychotika und Antidepressiva. Ergänzend dazu kommt oft die kognitive Verhaltenstherapie zum Einsatz, die darauf abzielt, die Selbstkontrolle zu fördern und das Verständnis für die eigene Erkrankung zu verbessern.
Viele Patienten zeigen jedoch kein vollständiges oder befriedigendes Ansprechen auf die Therapie, was die Notwendigkeit für neue und besser abgestimmte Behandlungsmethoden unterstreicht. Zur Entwicklung setzen viele Forscher noch immer Tierversuche ein.
Tierversuche
Tierversuche im Bereich der bipolaren Störungen werden vor allem an Mäusen und Ratten durchgeführt. Dabei wird versucht, Symptome bipolarer Störungen wie Hyperaktivität oder Anhedonie – die reduzierte Fähigkeit, Freude zu empfinden – künstlich bei den Tieren hervorzurufen. Der komplexe Verlauf bipolarer Störungen, der sich durch alternierende manische und depressive Episoden auszeichnet, kann jedoch in keinem Tierversuch vollständig abgebildet werden (2). Stattdessen konzentrieren sich viele Forscher auf „Tiermodelle“ der Manie, obwohl dies lediglich einen Teilaspekt der Erkrankung berücksichtigt (2). Die vermeintlich manischen Tiere zeigen vor allem Hyperaktivität, während Anhedonie als Merkmal einer depressiven Episode ebenfalls künstlich erzeugt wird.
Um diese Symptome bei Tieren hervorzurufen, werden sie chronischem Stress ausgesetzt oder mit bestimmten Wirkstoffen behandelt. Es gibt auch gentechnisch veränderte „Tiermodelle“, die an manische Zustände erinnernde Verhaltensweisen zeigen. Im Folgenden werden einige solcher Tierversuche exemplarisch vorgestellt.
Induktion durch chronischen Stress
Die Tiere werden wiederholt Stress ausgesetzt, um Symptome wie Apathie oder sozialen Rückzug hervorzurufen, die als Analogien zu depressiven Zuständen beim Menschen interpretiert werden. Auch manische Symptome wie Hyperaktivität können durch Stress ausgelöst werden. Typische Methoden umfassen unter anderem soziale Isolation, was für soziale Nagetiere wie Mäuse oder Ratten eine erhebliche Belastung darstellt. Der Einfallsreichtum der Forscher bei der Entwicklung solcher Stressmodelle ist dabei ebenso enorm wie bedenklich.
So wird Schlafentzug genutzt, um Manie-ähnliche Symptome zu erzeugen. Ein solches Experiment platziert bspw. Tiere auf einer kleinen Plattform über Wasser, wodurch sie nicht einschlafen können, da sie sonst ins Wasser fallen würden. Nach 72 Stunden Schlafentzug zeigen die Tiere Verhaltensweisen wie Hyperaktivität, Aggression, Schlaflosigkeit und gesteigertes sexuelles Verhalten – Symptome, die von Forschern als Anzeichen manischer Zustände interpretiert werden (3).
Manie beim Menschen äußert sich unter anderem durch Aggression und Unruhe. Solche Verhaltensweisen sollen in Tierversuchen mit dem „Resident-Intruder-Test“ nachgeahmt werden. Dabei wird ein fremdes Tier (Intruder, deutsch: Eindringling) in den Käfig eines zuvor isoliert gehaltenen Tieres (Resident, deutsch: Bewohner) gesetzt, woraufhin aggressives Verhalten wie Beißen oder Drohgebärden beobachtet wird.
In besonders ausgefeilten Tierversuchen werden mehrere Stressoren kombiniert. So existiert ein „Mausmodell“ der Manie, das auf der Kombination verschiedener, für die Tiere unvorhersehbarer Stresssituationen basiert. Über einen Zeitraum von drei Wochen werden die Mäuse täglich zwei verschiedenen Stressoren ausgesetzt, die in willkürlicher Reihenfolge angewendet werden. Zu den Stressoren zählen Störungen des Tag- und Nachtrhythmus, Schlafentzug, grelles Licht, Lärm und elektrische Fußschocks (4). Beispielsweise werden die Hell- und Dunkelphasen verändert, die Tiere am Schlafen gehindert, sie werden 12 Stunden lang Stroboskoplicht oder Lärm von 100 dB (entspricht in etwa der Lautstärke einer Motorsäge) ausgesetzt, die Temperatur wird für 30 Minuten auf bis zu 45°C erhöht, und die Tiere erhalten elektrische Fußschocks (4). Als Reaktion auf diese Tortur werden die Tiere hyperaktiv und ruhelos, ihr Verlangen nach Süßem wird verringert und sie haben einen gestörten Schlafrhythmus – Merkmale, die von Forschern dann als Anzeichen einer Manie gewertet werden.
Unter Einsatz anderer Stressoren versuchen Forscher in einem analogen Versuch hingegen, Depressions-ähnliche Zustände zu erzeugen. Dazu werden Mäuse beispielsweise über drei Wochen zufällig den folgenden Stresssituationen ausgesetzt: Einschränkung der Bewegungsfreiheit für 4 Stunden, feuchte Einstreu im Käfig für 12 Stunden, Schütteln des Käfigs, Aufhängen am Schwanz, forciertes Schwimmen (siehe unten) oder Neigung des Käfigs um 45° für 12 Stunden. Auch hier werden täglich zwei dieser Stressoren in zufälliger Reihenfolge angewendet (4).
Pharmakologische Modelle
Menschen mit bipolaren Störungen zeigen während manischer Episoden erhöhte Dopaminwerte. In Tierversuchen wird dies beispielsweise durch die Injektion von Amphetaminen simuliert, die die Freisetzung von Dopamin im Gehirn steigern. Den Tieren, in der Regel Mäusen oder Ratten, wird eine Dosis Amphetamin verabreicht, um übermäßige Hyperaktivität und andere Verhaltensänderungen hervorzurufen. In einigen Fällen erfolgt auch eine chronische Gabe von Amphetaminen über einen längeren Zeitraum. Nach der Verabreichung wird das Verhalten der Tiere überwacht, wobei insbesondere die motorische Aktivität (z. B. Laufen, Springen) als Indikator für Hyperaktivität untersucht wird. Zum Teil werden auch kognitive Funktionen wie Gedächtnis und Lernfähigkeit getestet, um kognitive Defizite zu prüfen, die bei bipolaren Störungen auftreten können. Dieses Modell weist jedoch klare Einschränkungen auf: Die Symptome bei Tieren und Menschen unterscheiden sich oft erheblich, und Manie umfasst weitaus mehr als nur Hyperaktivität. Zudem handelt es sich bei bipolaren Störungen um eine chronische Erkrankung, während die Amphetaminbehandlung in Tierversuchen meist akut, also kurzfristig erfolgt (5).
Einige Tierversuche kombinieren daher Amphetamin mit anderen Substanzen, um zusätzlich zu Hyperaktivität auch andere Symptome einer manischen Episode beim Menschen nachzuahmen. Ein Beispiel ist die Kombination von Amphetamin mit Chlordiazepoxid (CDP), einem Medikament, das normalerweise beruhigend und angstlösend wirkt. Zusammen sollen diese Substanzen Verhalten auslösen, das als manisch interpretiert wird.
Ein weiteres Experiment verwendet den Stoff Ouabain, der direkt ins Gehirn der Tiere gespritzt wird. Ouabain löst Hyperaktivität aus und wird deshalb als mögliches Modell für Manie verwendet. Allerdings kann der Effekt bis zu sieben Tage anhalten und verursacht dabei schwere Schäden an den Nervenzellen im Gehirn (5).
Genetische Modelle
Genetische Studien zeigen, dass Veränderungen in bestimmten Genen mit psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und bipolaren Störungen in Verbindung stehen. Um die Rolle einzelner Gene auf das Verhalten und die Gehirnfunktionen besser zu verstehen, werden „Tiermodelle“ mit gezielten genetischen Veränderungen entwickelt. Dazu zählen beispielsweise das Mutieren, Ausschalten oder Hinzufügen von Genen.
Einige dieser „Modelle“, wie transgene Mäuse, wurden speziell entwickelt, um manisches Verhalten und Stimmungsschwankungen zu untersuchen. Die meisten gentechnisch veränderten Tiere wechseln jedoch nicht selbstständig zwischen manischen und depressiven Zuständen. Einige zeigen jedoch Stimmungsschwankungen, wenn sie Umweltveränderungen oder Einflüssen auf ihren Tag-Nacht-Rhythmus ausgesetzt werden (5).
Ein Gen namens Clock wurde bei Patienten mit bipolarer Störung mit Symptomen wie manischen Episoden, Schlaflosigkeit und einem geringen Schlafbedürfnis in Verbindung gebracht. Um diese genetischen Zusammenhänge in einem „Tiermodell“ zu untersuchen, wurde die sogenannte ClockΔ19-Mutantenmaus entwickelt. Diese Mäuse haben eine genetische Veränderung, die die Funktion des Clock-Proteins stört – ein Protein, das für die Regulierung der inneren Uhr wichtig ist. Dadurch sind ihr Tag-Nacht-Rhythmus und ihr Verhalten stark verändert, wobei die Störungen bei den Mäusen extremer ausfallen als bei Menschen mit bipolarer Störung.
Darüber hinaus werden in der wissenschaftlichen Literatur weitere genetisch veränderte „Tiermodelle“ für bipolare Störungen beschrieben (5). Mithilfe der modernen Gentechnik, wie der sogenannten genetischen Schere CRISPR-Cas, können gezielt Mutationen, die beim Menschen mit bipolaren Störungen in Verbindung gebracht werden, in Mäusen erzeugt werden.
Verhaltenstests in Tierversuchen
Die oben beschriebenen Verfahren zur „Erzeugung“ sogenannter Tiermodelle zielen darauf ab, bei Tieren einzelne Aspekte bipolarer Störungen zu erzeugen, wie beispielsweise Hyperaktivität (als Symptom der Manie) oder Anhedonie (als Symptom der Depression). In den darauf basierenden Tierversuchen verwenden Forscher häufig Verhaltenstests, um diese Symptome messbar zu machen und zu quantifizieren. Im Folgenden werden einige dieser Tests näher beschrieben.
Beim Tail Suspension Test werden Mäuse am Schwanz aufgehängt. Lassen sie sich längere Zeit bewegungslos hängen, gilt das als depressives Verhalten.
- Beim Forcierten Schwimmtest (FST), auch Verhaltens-Verzweiflungstest (Behavioural despair test) genannt, werden Mäuse oder Ratten in einen mit Wasser gefüllten Zylinder gesetzt, in dem sie nicht stehen und aus dem sie nicht entkommen können. Typischerweise dauert der Test 6 Minuten. Während dieser Zeit wird gemessen, wie lange die Tiere schwimmen und versuchen zu entkommen und wie lange sie sich an der Wasseroberfläche treiben lassen. Längere Phasen der Bewegungslosigkeit werden als Anzeichen für Depressionen interpretiert (6).
- Beim sogenannten Tail Suspension Test (TST) werden Mäuse an ihrem Schwanz aufgehängt, so dass sie den Boden nicht berühren können. Längere Phasen der Bewegungslosigkeit werden als Verzweiflung interpretiert und als depressionsähnliches Verhalten gewertet (6).
- Beim Foot Shock Escape Test werden Mäusen über das Gitter, auf dem sie sitzen, elektrische Fußschocks verabreicht, denen sie nicht entkommen können. In späteren Versuchen wird dann beobachtet, ob die Tiere versuchen, den Schocks zu entkommen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Getestet wird dabei auf erlernte Hilflosigkeit.
- Beim Sucrose Consumption Test werden den Tieren zwei Flaschen angeboten: eine mit normalem Wasser und eine mit einer Zuckerlösung. Eine verringerte Aufnahme der Zuckerlösung wird als Indikator für Depressionen gewertet (6).
- Beim Open-Field Test werden die Tiere in eine Versuchsarena gesetzt, und ihre Bewegungen werden aufgezeichnet. Eine reduzierte Aktivität und Aufenthalt eher an den Wänden wird als depressives Symptom gewertet, während eine erhöhte Aktivität und Erkundung der erleuchteten Mitte als manischer Zustand interpretiert wird.
In diesen Tests werden also komplexe emotionale Zustände chronisch kranker Menschen auf einfache Verhaltensweisen von Tieren in akuten Stresssituationen heruntergebrochen. Zudem ist auch die Interpretation schwierig und es kann kaum eine Aussage darüber getroffen werden, ob ein Tier weniger hyperaktiv ist, weil ein getesteter Wirkstoff – wie gewünscht - gegen die „Manie“ wirkt oder ob das Tier dadurch krank oder stark sediert ist (5).
Warum Tierversuche versagen
Die Symptome einer bipolaren Störung sind komplex und tief in der menschlichen Kultur und Psychologie verwurzelt, was sich in Tierversuchen, in denen nur einzelne Symptome abgebildet werden, nicht wiedergeben lässt. Auch die kognitiven und emotionalen Aspekte der bipolaren Störung können bei Tieren nicht nachgeahmt werden. Manische Episoden, depressive Verstimmungen und die damit verbundenen Gedankenprozesse sind einzigartig menschlich. Obwohl zahlreiche „Tiermodelle“ entwickelt wurden, kann keines von ihnen eine bipolare Störung adäquat darstellen. Die meisten Modelle ahmen lediglich Manie oder Depression nach, indem sie Symptome wie Hyperaktivität oder Anhedonie erzeugen. Nur wenige berücksichtigen die zyklische Natur des menschlichen Zustands, bei dem sich Phasen von Manie und Depression abwechseln (7).
Tierversuche basieren generell auf der Annahme, dass die an einer Krankheit beteiligten Prozesse zwischen verschiedenen Spezies konserviert sind. Das bedeutet, dass dieselben Gene und Proteine sowohl bei Menschen als auch bei Tieren eine Rolle bei der Krankheit spielen. Diese Annahme kann jedoch die Prozesse, die sich im Laufe der Evolution unterschiedlich entwickelten, nicht berücksichtigen (8). Besonders unser Gehirn unterscheidet sich aber stark von dem Gehirn anderer Tiere. So ist beispielsweise die Entwicklung der menschlichen Großhirnrinde weitaus komplexer als bei anderen Tieren. Daher können Tierversuche, die an der menschlichen Gehirnentwicklung und -erkrankung beteiligten Prozesse nicht widerspiegeln.
Zudem sind viele krankheitsverursachende Gene, Proteine oder neuronale Schaltkreise, die bei psychischen Erkrankungen eine Rolle spielen, noch nicht bekannt (5). Wie kann auf dieser Basis die Erkrankung bei Tieren überhaupt in irgendeiner Weise sinnvoll nachgebildet werden?
Schließlich ist es grundsätzlich schwierig, die Validität von Tierversuchen im Bereich der Psychologie zu beurteilen. Üblicherweise wird die Einsetzbarkeit von „Tiermodellen“ folgendermaßen bewertet: Die Symptome werden in den Tieren hervorgerufen und anschließend wird geprüft, ob übliche Medikamente zur Behandlung von bipolaren Störungen, wie Lithium, die Symptome lindern. Wenn dies der Fall ist, gehen die Forscher davon aus, dass das „Modell“ die bipolare Störung ausreichend gut nachahmt, um daran beispielsweise neue Wirkstoffe zu testen.
Bei diesem Ansatz wird jedoch nicht berücksichtigt, dass Lithium nicht bei allen Patienten wirkt. Tatsächlich führt eine Langzeiteinnahme von Lithium nur bei 43 % der Patienten dazu, dass manische und depressive Phasen ausbleiben (9). Das aufgrund der positiven Reaktion auf Lithium vermeintlich erfolgreich getestete „Tiermodell“ entspricht somit gerade den Patienten am wenigsten, die am dringendsten auf neue Wirkstoffe angewiesen sind, da bestehende Therapien bei ihnen nicht wirken. Dieser methodische Fehler trägt - zusätzlich zu den anderen Einschränkungen von Tierversuchen - dazu bei, dass das Finden neuer Behandlungsmöglichkeiten noch unwahrscheinlicher wird.
Der Mangel an „Tiermodellen“, die tatsächlich eine bipolare Störung abbilden und Aussagen für menschliche Patienten ermöglichen, ist den Forschern durchaus bewusst. Wie üblich führt dies jedoch nicht zu einer Abwendung vom System Tierversuch, sondern zu dem Bestreben, die Modelle weiter „zu verfeinern“. Auch sollen verschiedene Modelle miteinander kombiniert werden, um so einzelne Facetten der Erkrankung in separaten Tierversuchen zu untersuchen (9).
Es ist absurd zu glauben, dass eine komplexe Krankheit, deren Mechanismen noch nicht einmal verstanden worden sind, in Tierversuchen nachgeahmt werden können. Nachgeahmt werden lediglich einzelne Aspekte oder Symptome, und das um den Preis von unsäglichem Leid unzähliger Tiere.
Tierversuchsfreie Forschungsmethoden
Angesichts der Schwächen von Tierversuchen gewinnen tierversuchsfreie Methoden zunehmend an Bedeutung. Diese Ansätze kombinieren technologische Innovationen mit humanbasierten Modellen, um die Mechanismen der bipolaren Störung besser zu verstehen.
In-vitro-Tests
Zellkulturen aus menschlichem Gewebe bieten eine präzisere Möglichkeit, die Auswirkungen von Medikamenten auf zellulärer Ebene zu untersuchen. Bisher war der Einsatz menschlicher Neuronen jedoch schwierig, da sie aus ethischen Gründen nur schwer zu gewinnen sind. Dank induzierter pluripotenter Stammzellen (iPSCs) können mittlerweile auch Neuronen von Patienten erzeugt werden, ohne den Patienten einer Gefahr auszusetzen. Die iPSCs werden durch die Reprogrammierung somatischer Zellen, wie z.B. Hautzellen oder Blutzellen, erzeugt. Dieser Prozess umfasst die Behandlung der Zellen mit einem Cocktail von Signalstoffen, wodurch sie in pluripotente Stammzellen umgewandelt werden, die sich in alle Zelltypen, einschließlich Neuronen, differenzieren können.
Mit Hilfe solcher aus iPSCs hergestellten Neuronen lassen sich die Eigenschaften von Neuronen von Patienten mit solchen von gesunden Personen vergleichen. Umfangreiche funktionelle Analysen zeigten, dass sich die Neuronen beider Gruppen unterscheiden. Auch lässt sich mit Hilfe der Neuronen das Ansprechen eines Patienten auf eine Lithiumtherapie mit über 92 %-iger Erfolgsrate vorhersagen (10).
Der Vorteil solcher Zellkulturen besteht in ihrer einfachen Durchführbarkeit und der Möglichkeit, sehr viele Experimente parallel durchzuführen. Sogenannte Co-Kulturen, bei denen neben Neuronen auch noch andere Zelltypen vorhanden sind, können die Aussagekraft von Zellkulturversuchen verbessern. Allerdings fehlt auch solchen Kulturen die Architektur und Vielzahl an Zellen und ihrer Interaktionsmöglichkeiten, wie sie im Gehirn vorhanden sind.
Organoide
Aus menschlichen Stammzellen erzeugte Mini-Gehirne, sogenannte Hirnorganoide, bieten die Möglichkeit, neuronale Netzwerke und ihre Dysfunktionen in vitro, also im Labor, zu untersuchen. Sie liefern detaillierte Einblicke in die neurobiologischen Grundlagen von Erkrankungen (13). Bei diesem innovativen Ansatz werden dreidimensionale Kulturen von humanen induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) verwendet, um Gehirnorganoide zu erzeugen, die frühe Stadien der Gehirnentwicklung nachahmen. Dazu werden iPSCs unter speziellen Kulturbedingungen in neuronale Vorläuferzellen differenziert. Diese Zellen werden dann in eine dreidimensionale Kultur überführt, in der sie sich selbstständig organisieren und miteinander interagieren, was zur Bildung von Gehirnorganoiden führt. Diese Organoide wachsen und entwickeln sich über Wochen bis Monate, wobei sie interne neuronale Verbindungen herstellen, und verschiedene Zelltypen bilden. Dadurch dienen Gehirnorganoide als wertvolle Modelle zur Untersuchung der menschlichen Gehirnentwicklung sowie der Entstehungsmechanismen neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen.
Mit menschlichen Hirnorganoiden können Entstehungsmechanismen neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen untersucht werden.
©Johns Hopkins University
Gehirnorganoide tragen zum Verständnis der bipolaren Störung bei, indem sie es Forschern ermöglichen, die molekularen und funktionalen Veränderungen zu untersuchen, die mit dieser Erkrankung verbunden sind. Somit helfen sie, die zugrunde liegenden Mechanismen aufzuklären, an denen mögliche Therapien ansetzen können, und ermöglichen die Entwicklung und Testung neuer Medikamente. Im Folgenden werden exemplarisch einige mit Hilfe von Hirnorganoiden gewonnene Erkenntnisse über bipolare Störungen aufgezeigt.
Ursachenforschung
Studien, die Gehirnorganoide aus iPSCs von Patienten mit bipolarer Störung verwenden, haben eine Vielzahl von Genen identifiziert, die im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen unterschiedlich reguliert sind (11). Diese Gene überschneiden sich häufig mit denen, die auch in anderen psychiatrischen Störungen wie Schizophrenie oder Major Depression verändert sind, was auf gemeinsame molekulare Mechanismen hinweist (12).
Organoide von Patienten mit bipolarer Störung zeigen zudem im Vergleich zu Kontrollpersonen kleinere Größen, weniger Neuronen und weniger komplexe neuronale Netzwerke (13). Dies deutet darauf hin, dass die Entwicklungsprozesse, die zu bipolaren Störungen führen, signifikante Veränderungen im neuronalen Wachstum und in der Vernetzung von Neuronen beinhalten. Es wurden außerdem Unterschiede in Bezug auf Ionenkanäle festgestellt, die an der neuronalen Signalweiterleitung beteiligt sind.
Aufklärung von Wirkmechanismen
Die Wirkmechanismen bekannter Stimmungsstabilisatoren wie Lithium sind noch immer nicht vollständig verstanden. Mit Hilfe von Hirnorganoiden können diese Mechanismen jedoch nun besser untersucht werden (13). So konnte gezeigt werden, dass eine Lithium-Vorbehandlung das Kalzium-Signal und die Genexpression in den Organoiden verändert. Bei Organoiden, die von Patienten stammen, die auf Lithium ansprechen, wurden dabei andere Veränderungen beobachtet als bei Kontrollorganoiden von Patienten, die nicht auf Lithium ansprechen (14). Dies trägt zum Verständnis des Wirkmechanismus von Lithium bei und hilft zu verstehen, warum nicht alle Patienten von der Therapie profitieren.
Organoide, die aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSCs) von Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen hergestellt werden, ermöglichen es Forschern somit, spezifische Veränderungen in den Zellen zu untersuchen und die Wirkung neuer therapeutischer Ansätze zu bewerten.
Personalisierte Therapie
Organoide die aus Zellen von Patienten entwickeltt wurden, behalten die genetischen und funktionalen Merkmale der Patienten bei. Das bedeutet, dass die Reaktion auf Medikamente in diesen Modellen die Reaktion im Patienten nachahmen kann (13). Dies bietet die Möglichkeit, die Wirksamkeit und Sicherheit neuer Medikamente in einem personalisierten Ansatz zu testen, bevor sie in klinischen Studien eingesetzt werden.
Insgesamt stellen Hirnorganoide eine vielversprechende Plattform für die Medikamentenentwicklung dar, da sie die Möglichkeit bieten, die Auswirkungen von Behandlungen in einem kontrollierten, menschlichen und sogar patientenspezifischen Kontext zu untersuchen.
Organ-on-a-Chip Systeme
Brain-on-a-chip (BoC) Systeme sind künstliche Modelle, die versuchen, die Funktionsweise des menschlichen Gehirns in einem kleinen, kontrollierten Raum nachzubilden. Diese Systeme sind so entwickelt, dass sie die verschiedenen Zellarten und deren Funktionen im Gehirn simulieren (15). Die verschiedenen Zell- oder Gewebetypen werden dabei in kleinen Kammern kultiviert, die über feine Kanäle miteinander verbunden sind.
Die Chips enthalten mehrere Zelltypen, um die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Zellen im Gehirn nachzustellen. Dies ist entscheidend, da die Funktion des Gehirns stark von der Interaktion zwischen Neuronen, Stützzellen (Gliazellen) und Blutgefäßzellen (Endothelzellen) abhängt. Dadurch können Forscher besser verstehen, wie normale Gehirnfunktionen ablaufen und wie Krankheiten das Gehirn verändern. In BoC-Systemen können bspw. Neuronen, Mikroglia, die an der Immunantwort des Gehirns beteiligt sind, und Endothelzellen, die die Blut-Hirn-Schranke nachahmen, miteinander kombiniert werden (15).
Somit stellen BoC-Systeme ein vielversprechendes Werkzeug zur Erforschung psychiatrischer Erkrankungen dar, indem sie die komplexen biologischen Prozesse, die zu diesen Erkrankungen führen, in einem kontrollierten Umfeld nachbilden. Auch in Deutschland werden BoC-Systeme entwickelt, bspw. im MicroOrganoLab der Eberhard Karls Universität Tübingen (16).
Bildgebende Verfahren
Techniken wie fMRT (funktionelle Magnetresonanztomographie) und EEG (Elektroenzephalographie) erlauben es, neuronale Aktivitäten und Netzwerke direkt im menschlichen Gehirn zu analysieren.
So untersuchten bspw. Roberts et al. 97 Personen mit familiärem Risiko (mindestens ein Verwandter ersten Grades mit bipolarer Störung) und 86 Kontrollpersonen mittels Magnetresonanztomographie und verglichen die Entwicklung der Konnektivität der weißen Substanz. Sie stellten dabei fest, dass bei den Risikopersonen bestimmte Gehirnnetzwerke weniger gut vernetzt sind (17).
Ursachenforschung und Prävention
Die zugrundeliegenden Mechanismen der bipolaren Störung sind noch nicht vollständig bekannt. Eine Theorie besagt, dass bipolare Störungen mit einer Dysfunktion des Neurotransmittersystems in Verbindung stehen. Dabei scheinen verschiedene Neurotransmittersysteme beteiligt zu sein. Eine Reihe von Umweltfaktoren könnten ebenso eine Rolle spielen (2). Die Ursachen bipolarer Störungen sind somit multifaktoriell und umfassen genetische, neurobiologische und psychosoziale Faktoren. Fortschritte in der Genomik haben spezifische Risikogene identifiziert.
Aufgrund der komplexen und noch immer nicht ausreichend verstandenen Entstehungsmechanismen ist eine Prävention schwierig. Hier könnten tierversuchsfreie Methoden wie Hirnorganoide dazu beitragen, bspw. den Effekt von Umwelteinflüssen auf die Gehirnentwicklung besser zu verstehen und so vermeidbare Risikofaktoren zu identifizieren.
Fazit
Die Erforschung der bipolaren Störung steht vor großen Herausforderungen. Tierversuche, die lange als unverzichtbar galten, erweisen sich zunehmend als nicht zielführend. Zudem sind sie überaus grausam, und die Methoden zur Erzeugung von Symptomen durch wiederholten Stress über längere Zeiträume wären beim Menschen als Folter zu bezeichnen.
Fortschritte in tierversuchsfreien Methoden wie Organoiden und Organchips können nicht nur die ethischen Bedenken lösen, sondern vor allem auch präzisere und effektivere Behandlungsmöglichkeiten liefern.
28.01.2025
Dr. rer. nat. Johanna Walter
Quellen
- Bipolare Erkrankungen, Neurologen und Psychiater im Netz, Das Informationsportal zur psychischen Gesundheit und Nervenerkrankungen
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