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Von außen betrachtet scheint der Ausstieg aus Tierversuchen eine rein technische Frage zu sein. Tierversuchsfreie Methoden (New Approach Methodologies, NAMs) – erlauben es, die menschliche Biologie direkt zu erforschen und sind dabei präziser, schneller und ethisch unbedenklich. Dennoch sinkt die Zahl der verwendeten Tiere nicht. In ihrem Artikel untersucht Pandora Pound die Frage, warum der Übergang von Tierversuchen zu NAMs so langsam voranschreitet.

Pound berücksichtigt dabei, dass die Wissenschaft nicht nur aus Theorien und Experimenten besteht, sondern aus Menschen, Institutionen und Machtverhältnissen. Wer verstehen will, warum Tierversuche trotz vorhandener tierversuchsfreier Verfahren weiter durchgeführt werden, muss die Wissenschaft als soziales System begreifen.

Die Wissenschaft als soziales System

Die Autorin stützt sich in ihrer Analyse auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu, der Wissenschaft nicht als neutrale Suche nach Wahrheit, sondern als „Feld“ beschrieb – einen Raum, in dem die Akteure um Einfluss, Ansehen und Ressourcen konkurrieren. In diesem Feld herrschen eigene Regeln: Was als „legitime Forschung“ gilt, entscheiden nicht Daten allein, sondern jene, die über sogenanntes symbolisches Kapital verfügen – also über Reputation, Netzwerke und institutionelle Macht.

Die tierversuchsbasierte Forschung ist so ein Feld und  hat seine eigenen Hierarchien und Rechtfertigungen entwickelt. Wer sich in ihr bewegt, übernimmt unbewusst ihre Werte und Praktiken – was Bourdieu den „Habitus“ nennt. Einmal sozialisiert, erscheint die Nutzung von Tieren als wissenschaftliche Selbstverständlichkeit.

Kapital und Karriere: Warum Veränderung riskant ist

In der Wissenschaft, wie in jedem Feld, entscheidet „Kapital“ über den Erfolg. Nach Bourdieu lassen sich in der Wissenschaft verschiedene Kapitalformen unterscheiden:

  • Symbolisches Kapital bedeutet Anerkennung und Prestige.
  • Soziales Kapital meint Netzwerke, Kooperationen, Zugehörigkeit.
  • Ökonomisches Kapital sind Fördergelder, Geräte, Infrastruktur.

Tierversuche sind in diesem System eine stabile Quelle all dieser Kapitalformen. Sie liefern verlässlich Publikationen, sichern Fördergelder, eröffnen Karrierewege und verschaffen Zugang zu etablierten Netzwerken. Ein Umstieg auf NAMs ist hingegen mit Unsicherheit verbunden: neue Methoden müssen erlernt, Labore umgebaut, Daten neu bewertet werden. In einem Umfeld, in dem Fördermittel meist nur für kurze Zeiträume vergeben werden, fehlen Zeit und Ressourcen dafür. Und wer versucht, tierfreie Studien zu veröffentlichen, stößt oft auf Gutachter, die „ergänzende Tierversuche“ verlangen. So wurde von einem Drittel der Forschenden Tierexperimente allein deshalb durchgeführt, um Publikationsanforderungen zu erfüllen. NAMs können in einem solchen System als karrieregefährdend wahrgenommen werden.

Macht, Legitimität und der „Goldstandard“

Tierversuche genießen in der akademischen Kultur eine besondere Art von symbolischer Macht. Sie gelten als „Goldstandard“. Seit dem 19. Jahrhundert haben Forscher Tierversuche als Inbegriff wissenschaftlicher Freiheit und Fortschritts behauptet – und damit ihre Legitimität tief in der Kultur der Forschung verankert. Solange die Verteidiger des Status quo diese Deutung aufrechterhalten, bleibt der Paradigmenwechsel blockiert – unabhängig davon, wie gut die Alternativen sind.

Was sich ändern muss

Pound zieht daraus eine klare Schlussfolgerung: Der Übergang zu tierfreien Methoden ist kein technisches Problem, sondern ein kulturelles und strukturelles. Statt nur in neue Technologien zu investieren, muss die Gesellschaft die Anreizsysteme und Machtstrukturen der Wissenschaft verändern:

  • Belohnungssysteme müssen Forschung fördern, die menschlich relevante Erkenntnisse liefert – nicht bloß viele Publikationen.
  • Förderinstitutionen müssen gezielt Projekte unterstützen, die NAMs entwickeln und anwenden, statt Tierforschung automatisch zu bevorzugen.
  • Aus- und Weiterbildungsprogramme könnten Forschende beim Umstieg begleiten, um dadurch bedingte Nachteile auszugleichen.
  • Schließlich sollte die Öffentlichkeit stärker in Entscheidungen einbezogen werden, um das Machtmonopol etablierter Akteure aufzubrechen.

Die USA gehen in diese Richtung: FDA und NIH planen, Tierstudien schrittweise zu ersetzen und Bewertungsmaßstäbe neu zu definieren. Andere Länder sollten folgen.

Eine neue Sprache für den Wandel

Pound schlägt vor, nicht mehr von „Replacement“ (Ersatz), sondern von „Displacement“ (Ablösung) zu sprechen. Der Begriff „Replacement“ impliziert, dass Tierversuche die Norm sind, an deren Stelle Alternativen treten müssen. „Displacement“ dagegen kehrt die Perspektive um: Tierexperimente werden nicht ersetzt, sondern von besseren Methoden abgelöst, weil sie wissenschaftlich und ethisch überholt sind.

Fazit

Wissenschaftlicher Fortschritt entsteht nicht nur aus besseren Methoden, sondern aus veränderten Strukturen und Werten. Bourdieus Konzepte – Feld, Habitus, Kapital – machen sichtbar, dass Wissenschaftler einem System von Belohnungen und Macht unterliegen. Wer die Forschung wirklich transformieren will, muss diese sozialen Mechanismen verstehen und gezielt verändern.

Zusammenfassung
27.10.2025

Dr. rer. nat. Johanna Walter

Quelle

Pound P. A sociological perspective on the challenges of displacing animal research within academia: the contribution of Bourdieu, NAM Journal 2025; 1: 100057