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23. Dezember 2016

Eine 2011 in der Fachzeitschrift Frontiers in Integrative Neuroscience veröffentlichte Übersichtsarbeit aus dem Forschungsinstitut für biomedizinische Geschichte, Milan (Italien), beleuchtet die Entstehungsgeschichte der Tiefen Hirnstimulation. Zahlreiche Tierversuche, aber auch am Menschen gewonnene Erkenntnisse werden angeführt, die bis zum therapeutischen Einsatz der auch als „Hirnschrittmacher“ bekannten Tiefen Hirnstimulation dokumentiert sind.

Der Artikel gibt einen historischen Abriss über durchgeführte Tierversuche wie auch über Erkenntnisse, die am Menschen gewonnen wurden, datierend aus dem 19. Jahrhundert bis in die jüngere Zeit. Deutlich wird, dass zwar standardmäßig Tierversuche unter anderem an Katzen, Hunden, Affen (darunter auch Schimpansen) und Bullen durchgeführt worden sind. Ebenso wird berichtet, dass im frühen 19. Jahrhundert elektrische Stimulation des cerebralen Kortex an gerade enthaupteten Gefangenen vorgenommen wurde.

Jedoch hatte 1874 der Wissenschaftler Bartholow erstmals seine Erkenntnisse der elektrischen Hirnstimulation am wachen Menschen berichtet. 1882 führte der Neuropsychiater Sciamanna mehrere Versuche zur elektrischen Stimulation an Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma durch. 1883 führte dann der Chirurg Alberti ein acht Monate dauerndes Experiment an einer Frau durch, bei der ein Tumor, der sich durch die Schädeldecke fraß, einfachen Zugang zur harten Hirnhaut ermöglichte.

Die erste moderne therapeutische Anwendung der Hirnstimulation bei schwerer Psychose wird in dem Artikel im Jahr 1938 beschrieben. Elektrischer Strom über die Schädeldecke verursachte einen epileptischen Anfall, der die neuronalen Verknüpfungen so umgestaltete, dass es zu einer Verbesserung der klinischen Situation der Patienten kam.

Als Pioniere der Tiefen Hirnstimulation werden in dem Artikel unter anderem die Wissenschaftler Delgado (1952), Bekhtereva (1963), Sem-Jacobsen (1965) und Cooper (1978) genannt.

Delgado beschrieb 1952 als erster die Technik der Implantation von Hirnelektroden im Menschen und die Bedeutung für die Diagnostik sowie die Therapie von Patienten mit psychischen Erkrankungen. In den folgenden zwei Jahrzehnten implantierte Delgado sogenannte stimoceivers, Elektroden, die als Empfangs- und Sendegerät fungierten, in verschiedene Tierarten, aber auch in Menschen und zeigte, dass er per Knopfdruck den Geist kontrollieren kann.

Allerdings werden Delgados Tierversuche in dem Artikel als „theatralisch“ beschrieben. So soll 1963 die Stimulation nicht wie gewünscht das aggressive Verhalten eines Bullen unter Kontrolle gebracht haben, sondern vielmehr dazu geführt haben, dass das Tier eine Linksbewegung vollzog.

Zur gleichen Zeit implantierte Delgado Elektroden in 25 Patienten, die an Schizophrenie oder Epilepsie litten, 1969 beschrieb er die enormen Möglichkeiten aber auch der Risiken der Hirnstimulation.

Die chronische Tiefenstimulation wurde erstmals von der Neurowissenschaftlerin Bekthereva als Therapie bei Bewegungsstörungen angewandt und 1963 veröffentlichte sie ihre Arbeit über die Nutzung multipler Elektroden bei hyperkinetischer Störung (Störung des Sozialverhaltens), die in Hirnareale des Subkortex implantiert wurden. Für die von ihr als therapeutische Elektrostimulation benannte Methode nutze sie Hochfrequenzpulse und erzielte ausgezeichnete Ergebnisse. Da die Veröffentlichung in Russisch verfasst war, wurde sie kaum bekannt.

Der Neurophysiologe Sem-Jacobsen nutze anfänglich implantierte Tiefenelektroden zur Aufzeichnung der Hirnaktivität und zur Stimulation bei Patienten mit Epilepsie oder psychiatrischen Erkrankungen. Er implantierte erfolgreich multiple Elektroden in den Thalamus und konnte so das beste Hirnareal für chirurgische gesetzte Gewebeschädigungen finden, eine damals übliche Behandlungsmethode. Die Elektroden verblieben oft monatelang im Patienten, ohne jegliche Nebenwirkungen. In den frühen 1970ern folgten Berichte über chronische Hirnstimulation mit in den Thalamus implantierten Elektroden zur Behandlung von chronischem Schmerz und bei Wachkomapatienten.

1977 berichtete der Neurochirurg Cooper seine ausgezeichneten Erfolge bei der Implantation von Elektroden über das Kleinhirn in den tiefen Thalamuskern bei Lähmung, Spastik und Epilepsie. Seine Erfahrungen basieren auf der chronischen Kleinhirnstimulation bei über 200 Patienten.

In der nachfolgenden Zeit wurde die Tiefe Hirnstimulation weiter optimiert, unter anderem konnte auf die Gewebeschädigung verzichtet werden, und die therapeutische Anwendung wurde immer mehr ausgeweitet wie beispielsweise auf Bewegungsverlangsamung, Schwindel oder Unbeweglichkeit. Neben der Nutzung zur Therapie bei Bewegungsstörungen gewann die Tiefe Hirnstimulation an Bedeutung zur Behandlung von chronischem Schmerz und wurde 1989 von der amerikanischen Lebens- und Arzneimittelbehörde (FDA) anerkannt.

Das „MPTP-Primatenmodell“ wird von Tierversuchsbefürworten häufig als ausschlaggebend für die medizinische Errungenschaft der Tiefen Hirnstimulation angeführt. Tatsächlich jedoch wurde das „MPTP-Modell am Affen“ zur Simulation von Parkinson 1983 erstmals beschrieben und es basierte auf dem Zufallsfund bei Drogenabhängigen, dass das Rauschgift MPTP Symptome ähnlich wie bei Parkinson verursacht. Die Entwicklung der Tiefen Hirnstimulation und die klinischen Erfolge am Patienten in verschiedenen therapeutischen Bereichen gingen dem „Affenmodell“ demnach lange voraus.

Originalartikel 

Sirioni, Vittorio A.: Origin and evolution of deep brain stimulation. Frontiers in Integrative Neuroscience 2011: 5(42); 1-5