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Der geschichtlich korrekte Weg zur Entdeckung und Entwicklung der Tiefenhirnstimulation 

Bei der Diskussion um die zweifelhafte Sinnhaftigkeit von Tierversuchen und ihrem Beitrag zu modernen medizinischen Errungenschaften verweisen Befürworter auf vermeintliche Aushängeschilder der tierexperimentellen Forschung. Doch unter näherer Betrachtung ergibt sich ein Bild von medizinischer Forschung, welche ohne Tierversuche zu Erfolgen führt.

Die Tiefenhirnstimulation ist ein äußerst populäres Beispiel der Tierversuchsbefürworter. Es wird behauptet, die erfolgreiche Behandlung von Parkinson-Patienten mittels Tiefenhirnstimulation sei ohne bahnbrechende Tierversuche nicht möglich gewesen. Doch die medizinische Geschichte zeichnet ein anderes Bild! Jahrzehnte bevor Tierexperimentatoren Affen das Nervengift MPTP verabreichten, um Symptome der Parkinson-Krankheit hervorzurufen, wurde die Methode der Tiefenhirnstimulation und ihre physiologischen Grundlagen durch Untersuchungen am Menschen erforscht und entwickelt. Parkinson ist eine chronische und fortschreitende Krankheit, deren erfolgreiche Heilung weiterhin aussteht. Die Tiefenhirnstimulation kann Abhilfe bei einem Teil der Symptome verschaffen. Mithilfe von Elektroden, welche Patienten eingesetzt werden und wie bei einem Herzschrittmacher eine Hirnregion (die Basalganglien) stimulieren, die für die Bewegungskontrolle verantwortlich ist, werden Bewegungsstörungen gelindert. Die Behandlungsmethode wird daher umgangssprachlich auch als „Hirnschrittmacher“ bezeichnet.

Es ist jedoch auch wichtig, zu betonen, dass die Parkinsonkrankheit weit komplexer ist und ihr Fortschreiten auch durch Tiefenhirnstimulation nicht aufgehalten werden kann. Weitere Symptome wie Gedächtnisverlust, Angstzustände und Depressionen benötigen dennoch weitere Behandlung. Trotz der zweifellosen Erfolge der Tiefenhirnstimulation ist auch diese Methode nicht ungefährlich. Schwerwiegende Nebenwirkungen wie tödliche Gehirnblutungen treten dreimal häufiger auf, verglichen mit herkömmlicher medizinischer Behandlung (1,2).

Dennoch ist der Erfolg der Tiefenhirnstimulation unbestritten. Darum lohnt es sich, diese Erfolgsgeschichte einmal näher zu beleuchten. Es wird deutlich, dass die oftmals angeführten Versuche am „MPTP-Affenmodell“ abseits des medizinischen Fortschritts verliefen und die Entwicklung der Tiefenhirnstimulation der Arbeit mit menschlichen Patienten durch visionäre Forscher zu verdanken ist.

Die Anfänge im 19. Jahrhundert

Es begann 1874, als der Wissenschaftler Robert Bartholow erste Erkenntnisse der elektrischen Hirnstimulation am wachen Menschen gewann (3).

1882 machte der Neuropsychiater Enzio Sciamanna eine Serie systematischer Versuche mit Elektrostimulation an Patienten mit Schädel-Hirn-Trauma (3).

1883 führte der Chirurg Alberto Alberti über einen Zeitraum von 8 Monaten Untersuchungen über cerebrale Stimulation an einer Frau durch, die an einem Hirntumor litt (3).

1890 führte der Neurochirurg Victor Horsely erste Operationen zur Behandlung von Bewegungsstörungen durch (4).

So ging es im 20. Jahrhundert weiter

1938 beschreibt Vittorio A. Sirioni die erste moderne therapeutische Anwendung der Hirnstimulation bei schwerer Psychose (3).

1939/1966 Paul Bucy und Walter Edward Dandy warnten vor Operationen an den Basalganglien, weil Dandy dort den Sitz des Bewusstseins vermutete und Bucy berichtete über Lähmungen und andere schwere Komplikationen. Dieser Status wurde durch einen Bericht von Putnam 1966 aufgehoben. Putnam hatte festgestellt, dass das Herausschneiden des Nucleus caudatus (Teil der Basalganglien) die Symptome von Parkinsonpatienten lindert, ohne die befürchteten Komplikationen (Lähmungen, Bewusstlosigkeit) auszulösen (4).

1947/1950 Die stereotaktischen Operationsmethoden wurden durch Nutzung von Atlanten menschlicher Gehirne, welche anhand von Leichen erstellt wurden, verfeinert. Präzise Operationen im dreidimensionalen Raum wurden möglich (5). Die elektrische Stimulation, die man intraoperativ zur Lokalisation der tiefen Hirnstrukturen nutzte, ließ vermuten, dass diese Methode nicht nur zur Diagnose genutzt werden kann, sondern auch zur Therapie. So wurde der Grundstein für die Entwicklung von der zerstörenden zur stimulierenden Neurochirurgie gelegt (3).

1952 Der Wissenschaftler Jose M. Delgado beschrieb als erster die Technik der Implantation von Hirnelektroden im Menschen und die Bedeutung für Diagnostik und Therapie von Patienten mit psychischen Erkrankungen. Seine parallel dazu durchgeführten Tierversuche u.a. an Bullen, führten nicht zu gewünschten Ergebnissen (3,6).

1954/1956/1980 Die Tiefenhirnstimulation wurde zur Behandlung chronischer Schmerzzustände und abnormer Bewegungen eingesetzt (4,7,8,9).

1963 wurde zum ersten Mal über eine erfolgreiche Operation am subthalamischen Kern berichtet, 20 Jahre vor dem „Affenmodell“! Andy studierte 50 Parkinson-Patienten und ermittelte die geeigneten Stellen für eine Gewebeschädigung mittels hochfrequenter Tiefenhirnstimulation (4,10).

1965 Der Neurophysiologe Carl Wilhelm Sem-Jacobsen nutzte anfänglich implantierte Tiefenelektroden zur Aufzeichnung der Hirnaktivität und zur Stimulation bei Patienten mit Epilepsie oder psychiatrischen Erkrankungen. Er implantierte erfolgreich multiple Elektroden in den Thalamus und konnte so das beste Hirnareal für chirurgisch gesetzte Gewebeschädigung bei Parkinson finden. Die Elektroden verblieben oft monatelang im Patienten, ohne jegliche Nebenwirkungen (11).

In den frühen 1970ern folgen Berichte über chronische Hirnstimulation mit in den Thalamus implantierten Elektroden zur Behandlung von chronischem Schmerz (12) und bei Wachkomapatienten (3, 13).

1968 wurde L-Dopa als medikamentöse Therapie von Parkinson entdeckt und verdrängte vorübergehend die operativen Verfahren. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass nicht alle Patienten auf L-Dopa ansprachen (3).

1972/1975 zeigten weitere Studien die therapeutische Wirkung der Tiefenhirnstimulation bei Bewegungsstörungen (3,14,15).

1970/1980 wurden im Bereich Kardiologie immer kleinere, leistungsfähigere und biokompatible Herzschrittmacher entwickelt. Die damit gemachten Erfahrungen wurden auf den Einsatz bei der tiefen Hirnstimulation übertragen und führten dazu, dass Elektroden dauerhaft implantiert werden konnten (4).

1978 führte der amerikanische Neurochirurg Irving S. Cooper Mut machende Ergebnisse bei der Behandlung von Cerebralparese, Spastik und Epilepsie mittels Tiefenhirnstimulation des ventrolateralen Thalamus ins Feld. Er berichtete über seine ausgezeichneten Ergebnisse bei der Behandlung mit chronischer Kleinhirnstimulation bei über 200 Patienten (3,16). 1987 unterstützte A.L. Benabid die Idee, chronische Stimulation als therapeutische Methode anzuwenden, durch seinen Bericht über die Stimulation der thalamischen Region. Er zeigte, dass die Stimulation des subthalamischen Kerns Besserung bei Parkinson brachte (3,17).

Die Rolle der Tierversuche

1983 wurde das MPTP-Modell am Affen zur Simulation von Parkinson erstmals beschrieben (18). Es basiert auf der zufälligen Entdeckung, dass das Rauschgift MPTP (1-methyl-4-phenyl-1,2,3,6-tetrahydropyridin) an Drogenabhängigen Parkinson-ähnliche Symptome verursacht. Mit MPTP vergiftete Affen zeigen ähnliche Anzeichen (4).

1989/1990 „demonstrierten“ Forscher die Bedeutung des subthalamischen Kerns an Affen, bei denen künstlich und chemisch Parkinson-ähnliche Symptome hervorgerufen wurden (4,19,20,21).

1993 kritisierte der Nobelpreisträger Francis Crick den Missbrauch von Affen in der Hirnforschung in einem Artikel mit dem Titel „Die Rückwärtsrichtung der menschlichen Neuroanatomie“ (4,22).

Fazit

  • Die Erfolgsgeschichte zur Entwicklung der Tiefenhirnstimulation wurde vorangetrieben durch die ineinandergreifenden Arbeiten klinischer Forschung.
  • Tierversuche trugen zu keinem Zeitpunkt zur Entwicklung der Methode bei.
  • Tierexperimentatoren etablierten das oftmals angeführte „MPTP-Affenmodell“, als die Tiefenhirnstimulation bereits eingesetzt worden war.
  • „Neue Erkenntnisse“ durch die Forschung an Affen waren schon lange Zeit zuvor bekannt.


19.09.2017
Christian Ott M.Sc., Neurobiologe, und Dr. med. Katharina Feuerlein

Quellen

  1. Deuschl G. et al. A randomized trial of deep-brain stimulation for Parkinson's Disease. NEJM 2006; 355: 896
  2. Weaver F.M. et al. Bilateral deep brain stimulation versus best medical therapy for patients with advanced Parkinson's disease. JAMA 2009; 301(1): 63
  3. Sirioni, Vittorio A.: Origin and evolution of deep brain stimulation. Frontiers in Integrative Neuroscience 2011: 5(42), 1-5
  4. Maxwell M.: Open letter to Voice for Ethical Research at Oxford (VERO).
    (Marius Maxwell MBBChri DPhil (MD PhD) ist Neurochirurg, zertifiziert vom Amerikanischen Gremium der Neurologischen Chirurgie, lehrte an den Universitäten von Cambridge, Oxford und Havard)
  5. Spiegel E.A. et al. Stereotaxic apparatus for operations on the human brain. Science 1947; 106: 349
  6. Delgado J. et al. Technique of intracranial electrode implacement for recording and stimulation and its possible therapeutic value in psychotic patients. Neurol.1952; 12: 315-319
  7. Heath R.G. Studies in schizophrenia - a multidisciplinary approach to mind-brain relationships. Harvard Univ. Press, Cambridge, Mass.,1954
  8. Pool et al. Hypothalamohypophyseal interrelationships. Charles C. Thomas, Springfield, Illinois, 1956
  9. Mazars G. et al. Control of dyskinesias due to sensory deafferentation by means of thalamic stimulation. Acta Neurochir. (Vienna) 1980; 30 (Suppl): 239
  10. Andy O.J. et al. Subthalamotomy in treatment of parkinsonian tremor. J. Neurosurg. 1963; 20: 860
  11. Sem-Jacobsen C.W. Depth electrographic stimulation and treatment of patient with Parkinson’s disease including neurosurgical technique. Acta Neurol. Scand. Suppl. 1965; 13: 365-377
  12. Hosobuchi Y. et al. Chronic thalamic stimulation for the control of facial anesthesia dolorosa. Neurol. 1973; 29: 158-161
  13. Hasserl R. et al. EEG and clinical arousal induced by bilateral long- term stimulation of pallidal systems in traumatic vigil coma. Clin. Neurophysiol. 1969; 27: 689-690
  14. Bechtereva N.P. et al. Therapeutic electrostimulation of deep brain structures. Vopr. Neirokhir. 1972; 1: 7-12
  15. Bechtereva N.P. et al. Method of electrostimulation of deep brain structures in treatment of some common diseases. Confin. Neurol. 1975; 37:136
  16. Cooper I.S. et al. Chronic cerebellar stimulation (CCS) and deep brain stimulation in involuntary movement disorders. Applied Neurophysiology 1982; 45: 209
  17. Benabid A.L. et al. Combined (thalamotomy and stimulation) stereotactic surgery of the VIM thalamic nucleus for bilateral Parkinson disease. Applied Neurophysiology 1987; 50: 344
  18. Burns R.S. et al. A primate model of parkinsonism: selective destruction of dopaminergic neurons in the pars compacta of the substantia nigra. PNAS 1983; 80: 4546
  19. Mitchell I.J. et al. The role of subthalamic nucleus in experimental chorea - evidence from 2-deoxy glucose metabolic mapping and horseradish-peroxidase tracing studies. Brain 1989; 112: 1533
  20. Alexander G.E. et al. Basal ganglia-thalamocortical circuits: parallel substrates for motor, oculomotor, prefrontal and limbic functions. Prog Brain Res 1990; 85: 119
  21. Bergman H. et al. Reversal of experimental parkinsonism by lesions of the subthalamic nucleus. Science 1990; 249: 1436
  22. Crick F., Jones E. Backwardness of human neuroanatomy. Nature 1993; 361: 109

Bildquelle

Shamir R. et al. Deep Brain Stimulation. Front Young Minds. 2014; 2: 12 doi: 10.3389/frym.2014.00012