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Ein Überblick über die Strategien in den Niederlanden, USA, Großbritannien, Norwegen, Schweden und der EU

Die deutsche Bundesregierung beteuert seit Jahren, dass alles dafür getan wird, dass weniger Tiere in den Laboren weniger leiden müssen, dass tierfreie Methoden eingesetzt werden und dass das Gesetz sowieso nur die Tierversuche erlaubt, die unerlässlich sind.

Seit Jahren weist ÄgT darauf hin, dass die praktische Umsetzung dieser Aussagen ganz offensichtlich zu wünschen übrig lässt – die seit Jahren auf hohem Niveau stagnierende Zahl an Tieren, die in Versuchen verwendet werden, spricht nämlich dieser Worte Hohn (1). Dazu kommt, dass so gut wie kein Tierversuch von den Behörden abgelehnt wird, da bundesweit im Schnitt 0,75 % der Anträge abgelehnt werden (2). Auch der Punkt, dass die humanbasierten Methoden bereits adäquat gefördert werden, erweist sich beim Blick auf die Fakten als haltlos: Tatsächlich wird die humanbasierte Forschung mit weniger als 1 % der Summen gefördert, die in Tierversuche fließen (3).

Echter Einsatz und ehrliches Interesse sehen anders aus. Im Gegensatz zu Deutschland sind andere Länder schon viel weiter und haben, größtenteils politisch motiviert, Pläne ausgearbeitet, wie der schrittweise Ausstieg aus dem System Tierversuch aussehen kann. Als Begründungen für einen Ausstieg werden, neben dem Tierschutz, auch immer die erhöhte Sicherheit für den Menschen und höhere (Forschungs-)Effizienz angegeben, da die neuen Methoden im richtigen System arbeiten, also humanrelevant sind. Somit sind die Ergebnisse nicht nur schneller zu generieren, sondern auch verlässlicher; Medikamente und Therapien können schneller entwickelt werden.

Niederlande

2016 beauftrage der niederländische Staatssekretär für Wirtschaft Martijn van Dam das National Committee for the protection of animals used for scientific purposes (NCad), einen (zeitlichen) Plan für die schrittweise Abschaffung von Tierversuchen zu erstellen. Die Vision: bis 2025 weltweite Führungsrolle bei Innovationen ohne Einsatz von Tierversuchen.

Im ersten Schritt ist die Beendigung der regulatorischen (gesetzlich vorgeschriebenen) Tierversuche vorgesehen, d.h. Tests, bei denen Medizinprodukte, Pestizide, Lebensmittelzusatzstoffe und Chemikalien an Tieren getestet werden. Alle Forschungszweige, die ihre jeweiligen speziellen Anforderungen haben (z.B. Grundlagenforschung), sollen in einem 10-Jahres-Plan behandelt werden.

Die empfohlene Strategie umfasst u.a.: internationale Vernetzung und multidisziplinäre Kollaborationen, nachträgliche Bewertung der Effizienz von Tierversuchen, schnellere Validierung tierversuchsfreier Methoden. Die Politik ist in der Verantwortung, das Wissen und Vertrauen in die tierfreien, modernen Methoden zu stärken und zu promoten (4).

Im November 2020 wurde der aktuelle Stand bewertet und einige Formulierungen geändert (5). So wird kein Zieljahr mehr genannt. Der Schwerpunkt soll auf der Etablierung von tierleidfreien Methoden und Innovationen liegen. Statt von einem Ausstieg ist jetzt von einem Wechsel (transition) die Rede. Kritiker des Plans sehen dies als Beweis des Scheiterns – mitnichten: Von Anfang an wurde vom NCad betont, dass der ambitionierte Plan nur gelingen kann, wenn auch auf internationaler Ebene und von den Regierungsbehörden alle Anstrengungen darauf abzielen, tierversuchsfreie Methoden stärker zu fördern (6). Der anvisierte Wechsel geht immer noch weit über die üblichen 3R, d.h. die bloße Reduzierung, Verbesserung und den Ersatz von Tierversuchen, innerhalb des bestehenden Systems hinaus. Der ursprüngliche Plan und selbst der überarbeitete ist nach wie vor wegweisend, denn er zeigt, dass ein Wechsel hin zu tierversuchsfreien Methoden möglich ist und, im Falle der Niederlande, ein ausgeprägter politische Wille vorhanden ist. 

Das zeigt auch die im Frühjahr 2022 eingerichtete Professur „Evidence-Based Transition to Animal-free Innovations“ (Evidenzbasierter Übergang zu tierversuchsfreien Innovationen) an der Universität Utrecht: Im Gegensatz zu den üblichen 3R-Bemühungen soll hier gezielt der Paradigmenwechsel von Tierversuchen hin zu humanbasierten Methoden vorangetrieben werden – auf wissenschaftlicher Basis (7).

USA

2020 legten die USA, initiiert von dem Vorsitzenden der US-Umweltbehörde EPA (Environmental Protection Agency) Andrew Wheeler, einen konkreten Arbeitsplan vor. Als Beweggründe sind schnellere und günstigere Gewinnung von Daten durch tierfreie, neue Methoden genannt, die im Gegensatz zu Tierversuchsergebnissen humanrelevant sind. Dies erfolgt unter Einhaltung aller nötigen Sicherheitsniveaus für Mensch und Umwelt.

Die Giftigkeitstests mit Säugetieren sollen bis 2035 verboten werden. Teil der Strategie zum Erreichen dieses Ziels ist die Erforschung und Förderung tierfreier Methoden bei gleichzeitiger Verringerung der Finanzierung von Tierversuchen aus Steuergeldern. Dazu sollen ab 2025 diese Gelder um 30 % gekürzt bzw. ab 2035 vollständig gestrichen werden (9).

Weltweit einzigartig: Im Dezember 2022 unterzeichnete der amerikanische Präsident Joe Biden ein Gesetz im Rahmen des Modernization Act 2.0 der FDA (Food and Drug Administration), dass tierversuchsfreie Verfahren bei der Zulassung von neuen Medikamenten anerkannt werden. Das Wort „Tier“ wird durch „präklinisch“ ersetzt, und menschliche Miniorgane („Organoide“), Multiorgan-Chips und computergestützte Methoden werden ausdrücklich erwähnt. Damit ist der Weg geebnet für eine vollständig tierversuchsfreie Medikamentenentwicklung – und es zeigt: Es ist ganz offensichtlich bereits durchführbar (8).

Großbritannien

UK Roadmap

Die UK Roadmap, einen Strategieplan, der von einer regierungsassoziierten Agentur (Innovate UK) durch über 60 Experten aus Wissenschaft und Industrie aufgesetzt wurde, gibt es seit 2015. Wichtiger Faktor ist auch hier, dass Ergebnisse aus Tierversuchen oft die Reaktionen des Menschen nicht widerspiegeln. Die tierfreien, neuen Methoden sollen schnellere Entdeckung und Entwicklung von Medikamenten, (Agro-)Chemikalien und weiteren Konsumprodukten ermöglichen. Die wissenschaftliche Pionierposition in tierfreien Methoden soll zudem zu verstärkten Investitionen aus dem Ausland führen sowie einen neuen Absatzmarkt im kommerziellen Bereich schaffen.

Finanzielle Investition in die Erforschung dieser Methoden ist entscheidend, zudem muss auch innerhalb des wissenschaftlichen Sektors mögliche Skepsis abgebaut werden. Kollaborationen und Netzwerke sowohl national als auch international sind anzugehen, ebenso interdisziplinärer Austausch, da viele verschiedene Industriesektoren von dem Einsatz dieser Methoden profitieren können (10).

Alliance for Human Relevant Science

Die Alliance for Human Relevant Science ist eine Kollaboration von Unternehmen, Organisationen und Einzelpersonen, die 2020 das Strategiepapier „Accelerating the growth of human relevant sciences in the United Kingdom“ (Beschleunigung des Wachstums humanrelevanter Wissenschaften im Vereinigten Königreich) erarbeitet haben. Zudem soll das Thema über eine Parlamentariergruppe (APPG) in das Parlament eingebracht werden.

Aktuelle Kosten und die Auswirkungen auf die Gesundheit aufgrund irrelevanter Forschungsergebnisse sowie die Ineffektivität des herrschenden Systems der Medikamentenentwicklung werden dargestellt. Als Hauptgrund werden die zahlreichen Speziesunterschiede zwischen Mensch und Tier genannt. Humanbasierte, neue Forschungsmethoden werden vorgestellt und aufgezeigt, inwiefern diese das bestehende System und den aktuellen Output verbessern können. Um dies zu erreichen, benötigt es strategische Finanzierung tierfreier Methoden, einen Aufbau multidisziplinärer Infrastrukturen und Kollaborationen, methodisches Training für (angehende) Wissenschaftler sowie regulatorische Änderungen (11).

Norwegen

Der Nationale Ausschuss für Versuchstiere in Norwegen hat 2020 das Ausstiegskonzept der Niederlande geprüft und eine Empfehlung an die Ministerin für Landwirtschaft und Ernährung, Olaug Vervik Bollestad, ausgesprochen. Es soll eine öffentliche norwegische Studie initiiert werden, die eine Beschränkung von Tierversuchen zugunsten einer tierfreien Forschung zum Ziel hat. Ein konkreter Ausstiegsplan, welcher auf die norwegischen Verhältnisse angepasst ist, soll entwickelt sowie die Einrichtung eines staatlichen 3R-Zentrums, welches in Norwegen aktuell noch nicht existiert, initiiert werden (12, 13).

Schweden

Kurz nachdem die schwedische Regierung hatte verlauten lassen, Weltführer auf dem Gebiet der tierversuchsfreien Forschung werden zu können (12), gab das Karolinska-Institut, eine der größten und angesehensten medizinischen Universitäten Europas, 2021 ein Diskussionspapier über neue Methoden ohne Tierversuche heraus. Dieses zielt klar auf einen Paradigmenwechsel ab, bei dem der Tierversuch nicht länger als „Goldstandard“ gilt. In dem 114-Seiten starken Papier wurden mehrere Akteure aus den Bereichen Forschung, Behörden, Politik und Industrie (L’Oréal und AstraZeneca) interviewt. Es wird ein Placement, nicht Replacement gefordert, also Etablierung tierfreier Verfahren statt eines 1-zu-1-Ersatzes von Tierversuchen. Auch das Wort „Alternativen“ wird nicht gewählt, sondern es wird von „neuen Methoden“ gesprochen. Diese seien kein bloßer Ersatz und auch keine Alternative, da sie sehr viel mehr Möglichkeiten böten als der Tierversuch. Die neuen Techniken bergen nach Überzeugung der Autoren ein großes Potenzial für die Wissenschaft, die menschliche Umwelt und Gesundheit, ebenso wie für die Innovationskraft der Industrie (14,15).

Europäische Union

Im September 2021 hat das EU-Parlament mit 97 % der Stimmen von insgesamt 687 Abgeordneten eine Resolution verabschiedet, die die EU-Kommission auffordert, einen Aktionsplan vorzulegen, wie ein Ausstieg aus dem Tierversuch gelingen kann. Dieser soll konkrete Maßnahmen und Zielvorgaben enthalten, um Fortschritte beim Ersatz von Tierversuchen durch tierfreie Methoden zu erzielen. Die Verantwortung für den Aktionsplan soll eine Taskforce aus verschiedenen Generaldirektionen der Kommission und EU-Agenturen übernehmen, die mit den Mitgliedstaaten und den Interessensvertretern zusammen den Plan ausarbeitet. Eine gezielte finanzielle Förderung tierversuchsfreier Methoden und die Schulung dieser sind ebenfalls Bestandteil der Forderung. Laut Europäischem Parlament fehlt es bisher an einem aktiven, koordinierten Einsatz zur Reduzierung und letztendlich vollständiger Abschaffung von Tierversuchen (16).

Bedauerlicherweise wies die EU-Kommission den fast einstimmig befürworteten Antrag ein paar Monate später lapidar zurück mit der Begründung, dass die geforderten Maßnahmen bereits bearbeitet werden würden. Angesichts gleichbleibend hoher Tierverbrauchszahlen in der EU ohne erkennbaren Abwärtstrend ist dies eine absurde Entscheidung.

Fazit

Visionäre Forschungsnationen sind bereits auf einem Weg und die Bundesregierung muss dringend handeln, wenn Deutschland seinem Ruf als Land hochmoderner Forschung gerecht werden will. Die Zukunft liegt aufgrund der zahlreichen Vorteile ganz klar in den tierfreien, humanbasierten Methoden. Was heute bereits trotz unzureichender Förderung möglich ist, zeigt unsere NAT-Database, eine einzigartige öffentliche Datenbank für tierfreie Methoden. 

23.05.2023
Dipl.-Biol. Julia Radzwill

Quellen

(1) Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft: Versuchstierzahlen 2019

(2) Ärzte gegen Tierversuche: Ablehnungsquote von Tierversuchen bundesweit unter 1 Prozent. 08.08.2019 >>

(3) Ärzte gegen Tierversuche: Förderung von Tierversuchen und tierversuchsfreier Forschung, 08.09.2020 (PDF) >>

(4) National Committee for the protection of animals used for scientific purposes (NCad): Transition to non-animal research >>

(5) National Committee for the protection of animals used for scientific purposes (NCad): Transition Programme for Innovation without the use of animals (TPI) Philosophy and approach (PDF) >>

(6) Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V. Interview Dr. Herman Koëter. 2018 >>

(7) Ärzte gegen Tierversuche: Niederlande erneut innovativ beim Ausstieg aus dem Tierversuch. 08.06.2022 >>

(8)  H.R.2617 - Consolidated Appropriations Act, 2023. Sec. 3209. Animal Testing Alternatives

(9) United States Environmental Protection Agency: New Approach Methods Work Plan, Juni 2020 (PDF) >>

(10) gov.uk: Non-animal technologies in the UK: a roadmap, strategy and vision, 10.11.2015 >> 

(11) Alliance for Human relevant Science: Accelerating the Growth of Human Relevant Life Sciences in the United Kingdom, März 2020 (PDF) >>

(12) Ärzte gegen Tierversuche: Norwegen: Ausschuss empfiehlt Ausstiegsplan, Pressemitteilung, 14.10.2020 >>

(11) Positionspapier des Norwegischen Komitees Forsøksdyrkomitéen (auf Norwegisch), 1.9.2020 >>

(13) Regeringens Proposition 2020/21:60: Forskning, frihet, framtid – kunskap och innovation för Sverige. 17.12.2020 

(14) Karolinska Institutet: Att kommunicera om nya metoder utan djurförsök. 02/2021  

(15) Regeringens Proposition 2020/21:60: Forskning, frihet, framtid – kunskap och innovation för Sverige. 17.12.2020

(16) Wortlaut des angenommenen Entschließungsantrags des Europa-Parlaments vom 16.9.2021 >>