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Warum wir Herausforderungen von morgen nicht mit Methoden von gestern lösen können… 

Eingangs zwei Fragen an die geneigte Leserschaft: Würden Sie sich einem Verkehrsflugzeug anvertrauen, dessen Turbinen mit den technischen Erkenntnissen aus der Zerlegung von Schiffsdieseln gewartet werden? Und jetzt dieselbe (nicht mehr rhetorische) Frage etwas abgeändert: Was kann eine Substanz, die an einem anderen Organismus entwickelt wurde, in Ihrem Körper anrichten?

Ein nicht unwesentlicher Teil der Psychiatrie und ihrer angrenzenden Gebiete (Neurologie etc.) sind pharmakologisch geprägt. Der Einsatz von Psychopharmaka, speziell Antidepressiva, ist fester Bestandteil der medizinischen Leitlinien und stellt neben der Psychotherapie ihr zweites Standbein dar. 

Vergegenwärtigt man sich auf der anderen Seite die Dimension, welche Erkrankungen aus dem psychiatrischen Formenkreis darstellen, dann ist es nur zwingend und folgerichtig, von einer Herausforderung zu sprechen…
… eine Herausforderung, auf deren Fragen es gilt, zeit- und zweckgemäße Antworten zu finden.

1. Was ist eigentlich eine „Depression“?

Der lateinische Stamm (deprimere = runterdrücken) gibt bereits den Rahmen vor – es handelt sich dabei um eine Reduktion von Antrieb und Leistungsfähigkeit, Stimmung, Lebensfreude, verstärktem Grübeln und negativen Gedanken. Diese Symptome treten auch bei gesunden Menschen zeitweise auf (zum Beispiel Liebeskummer oder Trauer). Bei einer Depression sind sie jedoch länger vorhanden, schwerwiegender ausgeprägt und senken deutlich die Lebensqualität.

2. Zahlen zur Depression

  • Im Zeitraum von einem Jahr leiden 5,2 % der Allgemeinbevölkerung im Alter von 18 bis 65 Jahren an einer klinisch-psychiatrischen Symptomatik. (1)
    Im Querschnitt der 18-65-jährigen Personen in Deutschland leiden zu jedem Zeitpunkt etwa 8,1% unter einer depressiven Symptomatik. (2)
  • Mit 31% nehmen psychische und Nervenerkrankungen bei den Berufsunfähigkeiten definitiv die Spitze ein (3) – 2008 waren es noch 20,6%.
  • Allein die direkten Krankheitskosten für psychische Erkrankungen betragen über 16 Milliarden Euro pro Jahr. (4)
    Die deutliche Zunahme der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Erkrankungen spiegelt sich in den zunehmenden Produktionsausfallkosten derzeit über 8,3 Milliarden Euro wieder. Der Ausfall an Bruttowertschöpfung durch Krankschreibungen aufgrund psychischer Erkrankungen beläuft sich dabei auf mindestens 13,1 Milliarden Euro. (5)

3. Krankheitsursachen

Definiert man das Leben als ein Zusammenspiel von Körper, Geist und Seele im individuellen Lebenskontext des Individuums, so finden sich bei jeder Depression Ursachen in jedem dieser vier Räume – ein sogenanntes BioPsychoSoziales Modell. Schon alleine daraus ist ersichtlich, dass Erkrankungen aus dem depressiven Formenkreis eine fast ausschließlich menschliche Erkrankung darstellen. Wo auch immer die eigentliche Ursache liegt – die Auswirkungen sind letztlich biochemischer Natur. Und genau dort setzen Psychopharmaka an. 

4. Unzureichende Vergleichbarkeit…

Bereits aus den o.g. Fakten lässt sich annehmen, dass es sich bei diesem Erkrankungsspektrum um ein Phänomen handelt, das eigentlich nur bei Menschen auftreten kann. Nirgendwo sonst in der Natur findet sich eine ähnlich komplex wechselwirkende Konstellation zwischen einem hochentwickelten Gehirn, einer durch menschliche Einflüsse geprägten Umwelt und einer durch den Menschen chemisch und physikalisch veränderten Umwelt.

Tiere haben Gefühle – wie wir Menschen auch, und wir teilen mit ihnen jede unserer Grundemotionen – Freude, Angst, Trauer, Wut etc. – aber eine Depression braucht ein menschliches Gehirn!

Nun trennen uns evolutionär aber Millionen von Jahren unterschiedlicher Entwicklungen in unterschiedlichen Lebensbereichen. Entsprechend haben sich die Systeme – wenngleich alle nach demselben Prinzip angelegt – sehr spezifisch an ihr jeweiliges Habitat angepasst. Es erklärt sich somit eigentlich von selbst, dass z.B. eine Maus, die vorwiegend in der Erde lebt und sich von Insekten und Pflanzen ernährt eine andere biochemische Architektur aufweist als ein Schwein oder eben ein Mensch. Jeder Tierarzt würde es als gegen jede faktische Vernunft bezeichnen, wenn man ein Medikament zum Beispiel für eine Katze – an einem Hund oder einem Kaninchen entwickeln würde.

5. Wie geht die Tierversuchsmedizin dieses Problem an?

Beispielsweise werden Ratten zur Erforschung der antidepressiven Potenz einer Substanz in einem Erschöpfungsversuch bis zum beinahe Ertrinken in einem Wasserkessel zum Schwimmen gezwungen. Daran soll abgeleitet werden, ob die entsprechende Substanz bei einem Menschen(!) ein antidepressives Potenzial haben könnte. In allen möglichen Varianten werden Millionen Tiere unvorstellbaren physischen und psychischen Schmerzen, oft bis zum direkten oder mittelbaren Tod ausgesetzt um deren Reaktion zu beobachten und auszuwerten. (6) Nach außen hin wird so etwas dann entweder als „Grundlagenforschung“ oder gar als ein „Durchbruch“ an die große Glocke gehängt. Der Türöffner für weitere üppige Zuwendungen aus dem Steuertopf – ohne eine substantielle Gegenleistung bis heute…

6. …und welche Folgen hat das?

Wäre solches Verhalten nicht mit unsagbarem Leid für Menschen und Tiere verbunden –– letztlich ohne jeden Nutzen für Leben und Gesundheit – so könnte man es schlichtweg als extrem teuren Unfug abtun.

Jedoch: Nach einer Studie der Universität Hannover sterben alleine in Deutschland jedes Jahr etwa 58.000 Menschen an Medikamentennebenwirkungen. (7) (Anm.: Diese Zahl beinhaltet alle eingesetzten Substanzen im stationären internistischen Bereich, nicht allein Psychopharmaka) – die Zahl an leichten bis sehr schweren Nebenwirkungen liegt erfahrungsgemäß um einen gewichtigen Faktor höher. Das bedeutet nicht nur eine deutliche Gefährdung für Gesundheit und Lebensqualität der betroffenen Menschen – der gesundheitsökonomische und volkswirtschaftliche Schaden durch erhöhten Behandlungsbedarf, längere Verweilzeiten im Krankenhaus, erhöhte Krankentage und ggf. Invalidisierung ist neutral formuliert beträchtlich.

Zudem zeigt sich, dass die Tierversuchsmedizin trotz faktisch unbegrenztem Ressourcenzugriff zunehmend an eine von der Natur gesetzte Mauer anläuft: Im Bereich der Psychopharmaka beispielsweise wurde seit mehreren Jahrzehnten (seit den sogenannten Serotonin*-Wiederaufnahme-Hemmern, den SSRIs) kein nennenswerter Fortschritt mehr erzielt. Die „Neuerungen“, welche auf den Markt kamen, waren im Wesentlichen Modifikationen bereits vorbekannter Substanzen. Und auch diese haben allesamt eine einzelne Wirkungsrate von etwa 60% (d.h., von 100 Individualfällen wirkt die Substanz mehr oder weniger nur bei 2/3 der Patienten).(8) Und selbst die als zu Anfangs mehr oder weniger unbedenklich angekündigten Serotonin–Wiederaufnahme–Hemmer (z.B. Citalopram) mussten nach einigen Jahren mit Warnhinweisen versehen werden, nachdem es bei Menschen(!) zu einer Häufung zum Teil tödlicher Erregungsleitungsstörungen am Herzen kam. (9)

*Anmerkung: Serotonin ist im menschlichen Gehirn u.a. für gute Laune und Zuversicht als Botenstoff zuständig.

7. Es geht nicht nur anders – sondern auch besser!

Nun – wenn man vehement GEGEN etwas auftritt – dann sollte man auch eine sinnvolle Alternative anzubieten haben.

Ich selbst war bereits als Kind gegen Tierversuche – jedoch ging ich immer davon aus, diese seien „alternativlos“ und müssten letztlich sein, wollte ich nicht, dass jemand der mir nahesteht stirbt, wenn er krank würde und keine Medikamente vorhanden wären, die ihm helfen.

Das änderte sich über die Jahre – spätestens 2015 wurde ich im Rahmen eines nervenärztlichen Kongresses auf sogenannte „BioChips“ und ähnliche Verfahren aufmerksam.

Kurzgefasst: Mit diesen Verfahren ist es möglich, die physiologischen und biochemischen Gegebenheiten im menschlichen Körper spezifisch, einfach und kostengünstig (30-60€/Einheit vs. bis zu einigen 10.000 € für eine genetisch veränderte Maus)(10–12) durch die Nutzung von künstlich erzeugten Stammzellen abzubilden. Ein Verfahren mit einem bislang noch nicht ansatzweise einschätzbaren Potential für die Medizin, der Behandlung spezifischer und/oder seltener Erkrankungen oder Infektionen! Ganz zu schweigen von dem gigantischen gesundheitsökonomischen Potenzial! Konfrontiert man die Seite der Tierversuchsbefürworter damit, setzen schnell improvisierte Rückzugsgefechte ein, indem auf die noch nicht ausreichende Serienreife, unzureichende Standardisierungen (welche bei Tierversuchen so gar nicht möglich wären…) Störanfälligkeiten etc… verwiesen wird, letztlich auf Probleme der Materialforschung, die diese in kurzer Zeit genauso behoben haben dürfte, wie zuvor die Optik oder die Farbenchemie das mit Mikroskopen getan hatte. 

Rückwirkend werden wir – die menschliche Gesellschaft und ihre Wissenschaft – uns nach jedem Abschnitt an den Ergebnissen messen lassen müssen, die wir als Antwort auf die Herausforderungen gefunden haben die die Natur und das Leben an uns immer wieder stellen. Und dabei wird es nicht interessieren, ob wir es einem Kreis von Lobbyisten recht gemacht haben – oder an Ideen und Vorstellungen einer damals bereits schon vergangenen Epoche hängengeblieben waren – sondern ob wir das Geschenk der Natur an uns – unseren pragmatischen logischen Verstand - konsequent und zum Nutzen des Lebens in Anwendung gebracht haben.

13.09.2018
Dr. med. Andreas Ganz

Über den Autor

Dr. med. Andreas Ganz, Jahrgang 1973
Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie
Master of Health Administration MHA
Ärztlicher Direktor der Prinzregent Luitpold Klinik in Reichenhall
Vorsitzender bei Ärzte gegen Tierversuche 

Quellen

  1. WHO: Depression and other common mental disorders (abgerufen am 23.08.2018) 
  2. Busch et al.: Prävalenz von depressiver Symptomatik und diagnostizierter Depression bei Erwachsenen in Deutschland: Ergebnisse der Studie zur Gesundheit Erwachsener in Deutschland (DEGS1). Bundesgesundheitsblatt - Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz 2013; 56(5–6): 733–739
  3. Morgen & Morgen, Pressemitteilung vom 13.04.2016: Neues M&M Rating Berufsunfähigkeit: Kontinuität im dynamischen Umfeld. (PDF aufgerufen am 23.08.2018) 
  4. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2011: Unfallverhütungsbericht Arbeit. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2012
  5. Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin: Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2014: Unfallverhütungsbericht Arbeit. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2016
  6. Ärzte gegen Tierversuche: Datenbank Tierversuche (abgerufen am 24.08.2018) 
  7. Schnurrer und Frölich: Zur Häufigkeit und Vermeidbarkeit von tödlichen unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Internist 2003; 44(7): 889–895
  8. Bschor und Kilarski: Are antidepressants effective? A debate on their efficacy for the treatment of major depression in adults. Expert Review of Neurotherapeutics 2016; 16(4): 367–374
  9. Ludbeck GmbH, Wichtige Arzneimittelinformation für medizinisches Fachpersonal vom 31.10.2011: Zusammenhang von CIPRAMIL® (Citalopramhydrobromid/ Citalopramhydrochlorid) mit dosisabhängiger QT-Intervall-Verlängerung (abgerufen am 27.08.2018) 
  10.  René Tolba, Institut für Versuchstierkunde der RWTH Aachen. WDR5-Podiumsdiskussion am 25.10.2012
  11.  Testbiotec (2015): Stoppt Investitionen in Tierleid, Seite 22 (PDF abgerufen am 24.08.2018) 
  12.  NBC News vom 03. Juni 2006: Mice play a critical role in medical research (abgerufen am 23.08.2018)