Möglicher Ansatzpunkt zur Therapie von Chorea Huntington entdeckt
- Pressemitteilung
Wissenschaftler aus Berlin und Düsseldorf erforschen seltene Erkrankungen mit Mini-Gehirnen
Chorea Huntington ist eine erbliche neurodegenerative Erkrankung. Etwa 5 bis 10 von 100.000 Menschen sind davon betroffen. Die Krankheit führt durch das Absterben von Nervenzellen zu unkoordinierten Bewegungen, psychischen Veränderungen, Demenz und schließlich zum Tod. Bisherige Therapien lindern lediglich die Symptome, können den Verlauf der Erkrankung aber weder aufhalten noch abbremsen. Forschende von der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (HHU) und dem Max Delbrück Center (MDC) in Berlin haben nun mit Hilfe menschlicher Mini-Gehirne neue Erkenntnisse darüber gewonnen, wie die Erkrankung voranschreitet und einen möglichen Ansatzpunkt für zukünftige Therapien gefunden. Der bundesweite Verein Ärzte gegen Tierversuche fordert einen konsequenten Umstieg auf tierversuchsfreie Methoden – auch für andere Erkrankungen.
Die Ursache von Chorea Huntington ist eine Mutation im sogenannten Huntigtin-Gen (HTT), bei der es zu einer abnormen Vervielfältigung eines kleinen DNA-Abschnitts kommt. Dadurch ändert das aus der DNA abgelesene Huntingtin-Protein seine dreidimensionale Struktur und kann verklumpen. Die Folge sind Protein-Ablagerungen in den Nervenzellen der Patienten. „Wie die Mutation zur Neurodegeneration und dem Absterben von Nerven führt, war bisher jedoch nicht bekannt. Eine zielgerichtete Entwicklung von Therapien ist ohne dieses Wissen nicht möglich“, erklärt Dr. Johanna Walter, wissenschaftliche Referentin bei Ärzte gegen Tierversuche.
Nun verwendeten Forschende vom MDC und der HHU menschliche Stammzellen, um die der Erkrankung zugrundeliegenden Mechanismen zu entschlüsseln (1). Mit der sogenannten Genschere CRISPR-Cas fügten sie die für Chorea Huntington typischen DNA-Veränderungen im HTT ein. Diese veränderten Zellen ließen sie zu sogenannten Mini-Gehirnen oder Hirn-Organoiden – das sind dreidimensionale Zellverbünde – heranwachsen. Dabei stellten sie fest, dass sich die Entwicklung der Organoide mit mutiertem HTT deutlich von denen unterscheidet, die eine gesunde HTT-Variante tragen. So führt das mutierte HTT dazu, dass bereits die frühe Entwicklung des Gehirns beeinträchtigt ist. Dies widerspricht der bisherigen Auffassung, dass Chorea Huntington erst reife Neuronen betrifft (2).
Die Forschenden fanden zudem heraus, dass in den Organoiden mit dem mutierten HTT das Protein CHCHD2 in geringeren Mengen gebildet wird. Das Protein ist mit der Funktion der Mitochondrien – der Energiekraftwerke unserer Zellen – verknüpft. Somit führt die Mutation zu einer schlechten Energieversorgung und einem reduzierten Stoffwechsel der Nervenzellen. Dies bestätigten auch Versuche mit Zellen von Chorea Huntington-Patienten. Wenn die Forschenden die Produktion von CHCHD2 erhöhten, normalisierte sich auch die Mitochondrien-Funktion. Das Gen stellt somit eine vielversprechende Zielstruktur zur Entwicklung neuer Medikamente dar (2).
Professor Alessandro Prigione von der HHU, der maßgeblich an der Huntington-Studie beteiligt war, hat zuvor bereits mit Organoiden an einer weiteren neurodegenerativen Erkrankung geforscht. Hier wurden Zellen von Patienten mit dem seltenen Leigh-Syndroms verwendet (3). Die Arbeiten brachten zum einen Erkenntnisse über die der Erkrankung zugrundeliegenden Mechanismen. Zum anderen ermöglichten sie auch, Wirkstoffe zur Behandlung des Leigh-Syndroms zu finden. Dies kam unmittelbar einem ersten Patienten zugute, der aufgrund der Erkrankung bereits gelähmt war und seit Wochen im Koma lag. Nach Therapie mit einem Wirkstoff, der mit den Organoiden gefunden wurde, erholte sich der 15-jährige Patient rasch. Er konnte wieder selbstständig atmen, sich bewegen und – wenn auch im Rollstuhl sitzend – wieder die Schule besuchen. Auch weiteren Patienten konnte mit der Therapie bereits geholfen werden (4).
„Diese Arbeiten wurden kürzlich völlig zurecht mit dem Eva Luise Köhler Forschungspreis für Seltene Erkrankungen ausgezeichnet (5)“, berichtet Walter. Zudem zeigen die Arbeiten das Potenzial von auf menschlichen Zellen aufgebauten Organoiden, menschliche Erkrankungen endlich besser zu verstehen und Therapien zu entwickeln. Dass dieses Potenzial bisher vor allem bei seltenen Erkrankungen wie Chorea Huntington oder dem Leigh-Syndrom genutzt wird, liegt daran, dass es für diese Erkrankungen kaum Modell-Systeme gibt. „So können moderne tierversuchsfreie Methoden für seltene Erkrankungen exemplarisch zeigen, wozu sie in der Lage sind. Es bleibt zu hoffen, dass die Erfolge dieser Arbeiten das Umdenken – weg vom Tierversuch und hin zu humanrelevanten Modellsystemen – beschleunigen. Dies würde nicht nur den Tieren zugutekommen, sondern vor allem auch zahllosen Patienten, die bisher vergebens auf eine hilfreiche Behandlung warten“, so Walter weiter.
Weitere Infos
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Quellen
- Lisowski, P. et al. Mutant huntingtin impairs neurodevelopment in human brain organoids through CHCHD2-mediated neurometabolic failure, Nature Communications 2024; 15: 7027 >>
- Sinha, G. Ein neuer Verdächtiger bei Chorea Huntington. Pressemitteilung Nr. 24 des Max Delbrück Center, 22.08.2024 >>
- Inak, G. et al. Defective metabolic programming impairs early neuronal morphogenesis in neural cultures and an organoid model of Leigh syndrome, Nature Communications 2021; 12: 1929 >>
- „Neustart“ für den Energiestoffwechsel – Hoffnung für Menschen mit seltenen Erkrankungen, Pressemitteilung des Exzellenzcluster NeuroCure vom 01.03.2024 >>
- Markus Schülke erhält Eva Luise Köhler Forschungspreis für Seltene Erkrankungen, Charité Universitätsmedizin Berlin, 06.05.2024 >>