Medizinischer Fortschritt ist wichtig - Tierversuche sind der falsche Weg!
10. August 2022
Eine im Mai 2022 in der Fachzeitschrift PLOS Biology erschienene Studie attestiert den Ergebnissen von Tierversuchen mangelhafte Reproduzierbarkeit, also Wiederholbarkeit. Das heißt, die Ergebnisse aus identisch aufgebauten Tierversuchen können vollkommen unterschiedlich sein. Um das herauszufinden, wurden Tierversuche zum Angstverhalten an Mäusen durchgeführt.
In der tierexperimentellen Wissenschaftswelt gilt es als Goldstandard, das Setup eines Versuchs so homogen wie möglich zu gestalten, indem genetisch identische Tiere, meist gleichen Geschlechts und Alters, verwendet werden und die Ausstattung der Käfige sowie das Prozedere in der Versuchsdurchführung einheitlich sind. So sollen Ergebnisse generiert werden, die stets reproduzierbar, d.h., wiederholbar, sind.
Da dies in der Praxis aber häufig nicht gelingt und es vielmehr trotz standardisierter Bedingungen in einem anderen Labor oder bei Wiederholung des Versuchs zu einem anderen Zeitpunkt zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann, sollen Ursachen dafür gesucht werden. Die Versagensquote, bereits publizierte Ergebnisse in Wiederholungsexperimenten zu bestätigen, liegt bei 50 bis 90 %.
Aus zahlreichen Studien ist bereits bekannt, dass der Experimentator wie u.a. dessen Geschlecht oder sein Umgang mit den Tieren im Labor, Einfluss auf die Versuchsergebnisse haben. Unter Federführung von Wissenschaftlern der Universität Münster wurde nun dieser Einfluss in drei Laboren an unterschiedlichen Standorten (Münster, Oldenburg, Bern in der Schweiz) untersucht. Zwölf Experimentatoren führten dabei in den drei Laboren an mindestens 288 weiblichen Inzucht-Mäusen Verhaltensversuche, wie den Open-Field-Test zur Untersuchung des Angstverhaltens, durch. Eine Maus wird als ängstlich eingestuft, wenn sie sich vorwiegend im geschützten, dunklen Bereich eines Versuchsfelds aufhält und als mutig, wenn sie die offenen, hellen Bereiche betritt.
Hierbei wurde verglichen, ob ein Versuch unter standardisierten Bedingungen mit nur einem Experimentator sich in der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse von einem Versuchsaufbau unterscheidet, der von mehreren Experimentatoren durchgeführt wird.
Im Ergebnis zeigte sich, dass zwischen den drei Standorten einige Ergebnisse nicht reproduzierbar waren, und zwar sowohl hinsichtlich des Versuchsaufbaus mit nur einem Experimentator, als auch des unter Beteiligung mehrerer Experimentatoren. Der Einfluss des Experimentators war mit durchschnittlich 5 % verantwortlich für die Unterschiede in den Ergebnissen, spielte also nur eine untergeordnete Rolle. Vielmehr war der Standort entscheidend, also in welchem Labor der Versuch durchgeführt wurde, was durchschnittlich 25 % der Variation ausmachte.
Überraschung äußern die Autoren zudem darüber, dass zu 41 bis 72 % nicht erklärbare Unterschiede zwischen den einzelnen Mäusen für die große Varianz der Ergebnisse verantwortlich ist. Unterschiede zeigten sich beispielsweise darin, wie lange eine Maus sich jeweils im ungeschützten Bereich des Versuchsfelds aufhält. Auch vollkommen widersprüchliche Schlussfolgerungen bezüglich des Aufzuchtverhaltens waren zu beobachten, was die Autoren als Beispiel für eine stark eingeschränkte Reproduzierbarkeit bezeichnen.
Die Erkenntnis der Autoren ist, dass die biologischen Variationen eine große Rolle bei Tierversuchen spielen. Sie räumen ein, dass bei Tierversuchen außer Acht gelassen wird, dass ein lebender Organismus auf seine Umgebung reagiert, was ein Grund für die mangelnde Reproduzierbarkeit sein kann. Sie folgern daraus, dass man zukünftig bessere Strategien braucht, um diese Variation kontrolliert im Versuchsdesign zu integrieren, anstatt sie wie bisher zu eliminieren, um auf diese Weise eine bessere Reproduzierbarkeit der Ergebnisse zu erzielen. Die Autoren halten weitere Studien für erforderlich. Gefördert wurde die Arbeit von der DFG, also auch vom Steuerzahler.
In dieser Studie geht es noch nicht einmal um die Frage nach der Validität, also die wissenschaftliche Aussagekraft und die Übertragbarkeit von tierexperimentellen Ergebnissen auf den Menschen. Der Tierversuch als systemimmanente Störung wird nicht in Frage gestellt. Dennoch wird deutlich, dass selbst Ergebnisse aus Versuchen innerhalb einer Spezies nicht reproduzierbar sind und damit auch nicht von einer Maus auf eine andere übertragbar sind und ebenso wenig eine Aussagekraft für den Menschen haben können. Ein Tier ist nun einmal keine Maschine, sondern ein Individuum mit eigenen Bedürfnissen, Vorlieben und Gefühlen. Dieses Wissen ist natürlich schon lange bekannt, was es umso fragwürdiger macht, warum hier eigens ein Tierversuch konstruiert wurde, indem zahlreiche Mäuse leiden mussten. Anstatt per se unzuverlässige Tierversuche zu optimieren, wäre es sinnvoll, humanbasierte Modelle zu nutzen, die reproduzierbar sind und zudem relevante Ergebnisse liefern.
Originalstudie
Vanessa Tabea von Kortzfleisch, Oliver Ambrée, Natasha A. Karp, Neele Meyer, Janja Novak, Rupert Palme, Marianna Rosso, Chadi Touma, Hanno Würbel, Sylvia Kaiser, Norbert Sachser und S. Helene Richter (2022): Do multiple experimenters improve the reproducibility of animal studies? PLOS Biology 20(5): e3001564
Zusammenfassung: Dipl.-Biol. Silke Strittmatter
Weniger und kürzere Tierversuche und verstärkter Einsatz von tierversuchsfreien Methoden erlaubten die beispiellos schnelle Corona-Impfstoffentwicklung.
15. August 2022
In einer umfangreichen Literaturanalyse und nach Befragungen von 11 Experten aus relevanten Interessensgruppen untersuchen die Autoren, warum die Entwicklung des Pfizer/BioNTech Corona-Vakzines viel schneller als die übliche Impfstoffentwicklung erfolgt ist. In der Studie stellt sich heraus, dass die Anzahl der durchgeführten Tierversuche reduziert wurde und mehr tierversuchsfreie Methoden verwendet und akzeptiert wurden. Außerdem begannen Studien am Menschen früher und wurden nicht erst nach den Tierversuchen durchgeführt, sondern parallel dazu. Die Aufsichtsbehörden akzeptierten zudem historische Daten aus früheren Impfstoffforschungen.
Durchschnittlich dauert es 10 bis 15 Jahre bis ein neuer Impfstoff entwickelt und zugelassen wird. Zwei bis vier Jahre davon braucht man nur für die gesetzlich vorgeschriebenen Tierversuche, in denen die Sicherheit und die Fähigkeit des Impfstoffs, eine Immunantwort zu erzeugen, an mehreren Tierarten getestet wird. In der Regel werden diese Tierversuche abgeschlossen und ausgewertet, bevor der Impfstoff an menschlichen Probanden in der ersten Phase der klinischen Studien erprobt wird. Auch nach der Zulassung müssen Sicherheit und Wirksamkeit jeder Produktionseinheit des Impfstoffs in den sogenannten Chargenprüfungen getestet werden, was häufig mit mehreren Tierversuchen verbunden ist.
Der erste Corona-Impfstoff in Europa, Comirnaty der Pharmaunternehmen Pfizer und BioNTech, wurde innerhalb von weniger als 12 Monaten nach dem ersten dokumentierten Fall einer Corona-Erkrankung zugelassen. Dies steht im krassen Gegensatz zu den üblichen 10-15 Jahren, die für die Entwicklung und Zulassung von Impfstoffen benötigt werden. Nach Beginn der Corona-Pandemie dokumentierten mehrere Medienberichte schon sehr bald, dass viele der sonst üblichen Tierversuche bei der Entwicklung der Corona-Impfstoffe übersprungen würden.
In dieser Studie nehmen die Autoren den Pfizer/BioNTech Corona-Impfstoff als Beispiel und analysieren dabei, wie sich die gesetzlichen Anforderungen für die obligatorischen Tierversuche im Gegensatz zu dem präpandemischen „Normalfall“ unterschieden. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, wie verschiedene Interessensgruppen, einschließlich Zulassungsbehörden und Pharmaunternehmen, das Potenzial für nachhaltige Auswirkungen auf zukünftige Impfstoffentwicklungen sehen.
Hierzu analysierten die Autoren 171 relevante Dokumente, wie z.B. Richtlinien und Anforderungen zur Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Europäischen Arzneimittelbehörde (EMA), EU-Regularien, Protokolle internationaler Treffen von Interessensgruppen, Peer-Review-Artikel zur Impfstoffentwicklung u.a. Weiterhin führten sie Interviews mit 11 Experten aus den folgenden Interessensgruppen: Vertreter niederländischer und europäischer Zulassungsbehörden, Impfstoffentwickler (Pharmaunternehmen), (Bio-)-Medizinwissenschaftler/Virologen, die an Tierversuchen oder tierversuchsfreien Methoden arbeiten, Tierrechtsorganisationen und niederländische und europäische Politiker.
Weniger Tierversuche, mehr tierversuchsfreie Methoden
Schon am Anfang des Impfstoffentwicklungsprozesses wurden verstärkt schnelle, tierversuchsfreie In-vitro- (d.h. im Reagenzglas) und In-silico- (d.h. computergestürzte) Verfahren sowie menschliche Studien eingesetzt, um die Struktur und die Eigenschaften möglicher Impfstoffkandidaten zu bestimmen. Gleichzeitig wurden deutlich weniger Tierversuche zu diesen Zwecken gemacht. Dabei erlaubte die EMA den Pharmafirmen, viele sonst übliche Tierversuche mit Daten aus menschenrelevanten Methoden zu ersetzen und nur als „essenziell“ betrachtete Tierversuche zur Impfstoffsicherheit durchzuführen. Die Tierversuche zur Prüfung der Wirksamkeit der (Corona-)Impfstoffe wurden laut einer Befragten nicht als „essenziell“ angesehen und die Wirksamkeit konnte deswegen direkt am Menschen getestet werden. Auch spezielle Sicherheitstestungen an Tieren, wie. z.B. zu Karzinogenität, mussten für Comirnaty nicht gemacht werden, weil der Impfstoff bereits ausgiebig genug charakterisiert war. Einige der Befragten sind der Meinung, dass diese Reduktion oder gar die Abschaffung einiger Tierversuche eine nachhaltige Praxis auch für die Zeiten nach der Corona-Pandemie darstellen können.
Tierversuche erst nach Versuchen am Menschen oder parallel dazu
Um die Zulassung der Corona-Impfstoffe weiter zu beschleunigen, hat die EMA den sogenannten „Rolling Review“ verwendet, d.h. alle Testergebnisse wurden umgehend von der Zulassungsbehörde begutachtet. Im Laufe des Rolling Review wurden einige Tierversuche, die üblicherweise vor den Versuchen am Menschen gemacht werden, erst während der klinischen Phase 3 durchgeführt, bei der der Impfstoff bereits an Tausenden Menschen erprobt wurde. Teilweise wurden die Tierversuche sogar erst nach der abgeschlossenen Impfstoffzulassung durchgeführt.
Tierversuchsfreie Chargenprüfungen
Eine weitere Besonderheit von Comirnaty und anderen Corona-Impfstoffen ist, dass alle Chargenprüfungen völlig tierversuchsfrei sind und stattdessen auf modernen In-vitro-Methoden basieren. Laut der Autoren sind diese Techniken präziser, robuster, billiger und haben eine kürzere Bearbeitungszeit als Tierversuche.
Noch ein Unterschied zu der präpandemischen Impfstoffentwicklung ist, dass die EMA Daten aus Tierversuchen akzeptierte, die für andere Impfstoffe mit dem gleichen Wirkmechanismus gemacht wurden. So wurden viele zusätzliche Tierversuche umgangen, was die Geschwindigkeit der Impfstoff-Entwicklung deutlich gesteigert hat.
Pharmaunternehmen: tierversuchsfreie Methoden sind besser, billiger, schneller
Diese Studie befasst sich auch mit der kritischen Frage, inwiefern die hier beschriebene Vorgehensweise bei der Impfstoffentwicklung auch nach der Pandemie etabliert werden könnte - sowohl bei mRNA-basierten, als auch anderen Impfstoffen. Pharmaunternehmen sind bereit, den nächsten Schritt zu tun: Sie halten tierversuchsfreie Methoden für besser, billiger, schneller und wissenschaftlich bedeutsamer. Auf die Frage nach Hürden bei der Umsetzung nannten Befragte aus allen Interessensgruppen die Risikoaversion der Aufsichtsbehörden als Hauptgrund dafür, dass Tierversuche immer noch gefordert und als notwendig erachtet werden.
Fazit
Die Studie zeigt, wie die EMA ihre Zulassungsfrist in Krisenzeiten verkürzte, indem sie die Zahl der Tierversuche reduzierte und tierversuchsfreie Methoden förderte. Sie unterstreicht auch die Bereitschaft der Pharmaunternehmen, zu diesen Veränderungen beizutragen. Ein ständiger Dialog mit den Aufsichtsbehörden ist notwendig, um weniger Tierversuche und mehr tierversuchsfreie Methoden auch zukünftig bei der Impfstoff- und Medikamentenentwicklung einzusetzen. Die Sinnhaftigkeit der Tierversuche, die parallel oder sogar erst nach den Humanstudien durchgeführt wurden, ist mehr als fragwürdig. Abgesehen davon sollte die Vorgehensweise bei den Corona-Impfstoffen jedoch als Präzedenzfall gesehen werden, für eine erfolgreiche Impfstoff- und Medikamententestung ohne Tierversuche.
Quelle
Ritskes-Hoitinga, M. et al.: The promises of speeding up: Changes in requirements for animal studies and alternatives during COVID-19 vaccine approval – A case study. Animals 2022; 12(13):1735
Zusammenfassung:
Dr. rer. nat. Dilyana Filipova