Medizinischer Fortschritt ist wichtig - Tierversuche sind der falsche Weg!
23. Dezember 2016
Eine 2011 in der Fachzeitschrift Frontiers in Integrative Neuroscience veröffentlichte Übersichtsarbeit aus dem Forschungsinstitut für biomedizinische Geschichte, Milan (Italien), beleuchtet die Entstehungsgeschichte der Tiefen Hirnstimulation. Zahlreiche Tierversuche, aber auch am Menschen gewonnene Erkenntnisse werden angeführt, die bis zum therapeutischen Einsatz der auch als „Hirnschrittmacher“ bekannten Tiefen Hirnstimulation dokumentiert sind.
Der Artikel gibt einen historischen Abriss über durchgeführte Tierversuche wie auch über Erkenntnisse, die am Menschen gewonnen wurden, datierend aus dem 19. Jahrhundert bis in die jüngere Zeit. Deutlich wird, dass zwar standardmäßig Tierversuche unter anderem an Katzen, Hunden, Affen (darunter auch Schimpansen) und Bullen durchgeführt worden sind. Ebenso wird berichtet, dass im frühen 19. Jahrhundert elektrische Stimulation des cerebralen Kortex an gerade enthaupteten Gefangenen vorgenommen wurde.
Jedoch hatte 1874 der Wissenschaftler Bartholow erstmals seine Erkenntnisse der elektrischen Hirnstimulation am wachen Menschen berichtet. 1882 führte der Neuropsychiater Sciamanna mehrere Versuche zur elektrischen Stimulation an Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma durch. 1883 führte dann der Chirurg Alberti ein acht Monate dauerndes Experiment an einer Frau durch, bei der ein Tumor, der sich durch die Schädeldecke fraß, einfachen Zugang zur harten Hirnhaut ermöglichte.
Die erste moderne therapeutische Anwendung der Hirnstimulation bei schwerer Psychose wird in dem Artikel im Jahr 1938 beschrieben. Elektrischer Strom über die Schädeldecke verursachte einen epileptischen Anfall, der die neuronalen Verknüpfungen so umgestaltete, dass es zu einer Verbesserung der klinischen Situation der Patienten kam.
Als Pioniere der Tiefen Hirnstimulation werden in dem Artikel unter anderem die Wissenschaftler Delgado (1952), Bekhtereva (1963), Sem-Jacobsen (1965) und Cooper (1978) genannt.
Delgado beschrieb 1952 als erster die Technik der Implantation von Hirnelektroden im Menschen und die Bedeutung für die Diagnostik sowie die Therapie von Patienten mit psychischen Erkrankungen. In den folgenden zwei Jahrzehnten implantierte Delgado sogenannte stimoceivers, Elektroden, die als Empfangs- und Sendegerät fungierten, in verschiedene Tierarten, aber auch in Menschen und zeigte, dass er per Knopfdruck den Geist kontrollieren kann.
Allerdings werden Delgados Tierversuche in dem Artikel als „theatralisch“ beschrieben. So soll 1963 die Stimulation nicht wie gewünscht das aggressive Verhalten eines Bullen unter Kontrolle gebracht haben, sondern vielmehr dazu geführt haben, dass das Tier eine Linksbewegung vollzog.
Zur gleichen Zeit implantierte Delgado Elektroden in 25 Patienten, die an Schizophrenie oder Epilepsie litten, 1969 beschrieb er die enormen Möglichkeiten aber auch der Risiken der Hirnstimulation.
Die chronische Tiefenstimulation wurde erstmals von der Neurowissenschaftlerin Bekthereva als Therapie bei Bewegungsstörungen angewandt und 1963 veröffentlichte sie ihre Arbeit über die Nutzung multipler Elektroden bei hyperkinetischer Störung (Störung des Sozialverhaltens), die in Hirnareale des Subkortex implantiert wurden. Für die von ihr als therapeutische Elektrostimulation benannte Methode nutze sie Hochfrequenzpulse und erzielte ausgezeichnete Ergebnisse. Da die Veröffentlichung in Russisch verfasst war, wurde sie kaum bekannt.
Der Neurophysiologe Sem-Jacobsen nutze anfänglich implantierte Tiefenelektroden zur Aufzeichnung der Hirnaktivität und zur Stimulation bei Patienten mit Epilepsie oder psychiatrischen Erkrankungen. Er implantierte erfolgreich multiple Elektroden in den Thalamus und konnte so das beste Hirnareal für chirurgische gesetzte Gewebeschädigungen finden, eine damals übliche Behandlungsmethode. Die Elektroden verblieben oft monatelang im Patienten, ohne jegliche Nebenwirkungen. In den frühen 1970ern folgten Berichte über chronische Hirnstimulation mit in den Thalamus implantierten Elektroden zur Behandlung von chronischem Schmerz und bei Wachkomapatienten.
1977 berichtete der Neurochirurg Cooper seine ausgezeichneten Erfolge bei der Implantation von Elektroden über das Kleinhirn in den tiefen Thalamuskern bei Lähmung, Spastik und Epilepsie. Seine Erfahrungen basieren auf der chronischen Kleinhirnstimulation bei über 200 Patienten.
In der nachfolgenden Zeit wurde die Tiefe Hirnstimulation weiter optimiert, unter anderem konnte auf die Gewebeschädigung verzichtet werden, und die therapeutische Anwendung wurde immer mehr ausgeweitet wie beispielsweise auf Bewegungsverlangsamung, Schwindel oder Unbeweglichkeit. Neben der Nutzung zur Therapie bei Bewegungsstörungen gewann die Tiefe Hirnstimulation an Bedeutung zur Behandlung von chronischem Schmerz und wurde 1989 von der amerikanischen Lebens- und Arzneimittelbehörde (FDA) anerkannt.
Das „MPTP-Primatenmodell“ wird von Tierversuchsbefürworten häufig als ausschlaggebend für die medizinische Errungenschaft der Tiefen Hirnstimulation angeführt. Tatsächlich jedoch wurde das „MPTP-Modell am Affen“ zur Simulation von Parkinson 1983 erstmals beschrieben und es basierte auf dem Zufallsfund bei Drogenabhängigen, dass das Rauschgift MPTP Symptome ähnlich wie bei Parkinson verursacht. Die Entwicklung der Tiefen Hirnstimulation und die klinischen Erfolge am Patienten in verschiedenen therapeutischen Bereichen gingen dem „Affenmodell“ demnach lange voraus.
Originalartikel
Sirioni, Vittorio A.: Origin and evolution of deep brain stimulation. Frontiers in Integrative Neuroscience 2011: 5(42); 1-5
3. Mai 2017
Der Artikel aus dem Jahr 2011 thematisiert die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Tierversuchen am historischen Beispiel Thalidomid. Thalidomid wurde 1957 als Contergan (bzw. Softenon) vom Pharmaunternehmen Grünenthal auf den Markt gebracht. Es galt als harmloses Schlaf- und Beruhigungsmittel und wurde u.a. zur Behandlung von morgendlicher Schwangerschaftsübelkeit eingesetzt. Dies führte in nur vier Jahren zu teils schweren Missbildungen bei rund 10.000 Neugeborenen.
Das Ziel des Artikels ist es, an Hand der Analyse von konkreten historischen Belegen und Forschungsarbeiten folgende gängige Argumente wissenschaftlich zu widerlegen:
- Thalidomid wurde im Tierversuch nicht auf mögliche teratogene Schäden getestet. (D.h. es wurde nicht getestet, ob die Einnahme des Wirkstoffes bei Schwangeren mögliche Nebenwirkungen auf das Un- bzw. Neugeborene haben könnte.)
- Wäre Thalidomid an schwangeren Tieren getestet worden, hätten deren Nachkommen dieselben Missbildungen gezeigt wie der Mensch und das Desaster hätte verhindert werden können.
Vier zentrale Punkte werden von den Autoren untersucht und wissenschaftlich nachgewiesen:
1. Die Tatsache, dass diaplazentarer Transfer möglich ist, also dass Wirkstoffe von der Mutter über die Plazenta auf das Kind übertragen werden können, gilt seit den 1930er Jahren als wissenschaftlich anerkannt. Nach dem Wissensstand der 1950er Jahre konnte Thalidomid als klarer Kandidat für möglichen diaplazentaren Transfer gelten.
2. Tests zur Teratogenität von neuen Wirkstoffen gehörten in den späten 1950er Jahren zur gängigen Praxis innerhalb von präklinischen Versuchsreihen. Ob auch Thalidomid nach dem damals üblichen Prozedere an schwangeren Tieren getestet wurde, werden wir nie mit Sicherheit erfahren: Sämtliche Versuchsprotokolle der Firma Grünenthal wurden zerstört.
3. Mehr Tierversuche hätten die „Contergan-Tragödie“ nicht verhindern können. Nachdem die Folgen von Thalidomid bewiesen waren, begannen intensive Forschungsarbeiten zur Teratogenität von Thalidomid bei unterschiedlichen Tierarten:
- Die Firma Grünenthal selbst versuchte 1962, die teratogenen Effekte von Thalidomid an Mäusen, Ratten und Kaninchen nachzuweisen. Die Ergebnisse waren negativ.
- Zahlreiche Forschungsarbeiten der Folgejahre bestätigen, dass Mäuse, Ratten oder Hamster auf den Wirkstoff nicht in gleicher Weise reagieren wie der Mensch. Kongenitale Schäden treten nur sporadisch und unspezifisch auf und liefern keinen Hinweis auf das Krankheitsbild der Phokomelie (Missbildungen der Gliedmaßen), das für menschliche Thalidomid-geschädigte Neugeborene charakteristisch ist. Mäuse, denen Thalidomid in einer Konzentration von 4000 mg/kg verabreicht wurde, zeigten keine Thalidomid-spezifischen teratogenen Effekte. Beim Mensch reichten 0,5 mg/kg.
- Nicht-menschliche Primaten reagierten auf die Verabreichung von Thalidomid dem Menschen ähnlich: Phokomelie konnte als fruchtschädigende Folge nachgewiesen werden. Weiterführende Untersuchungen mit 15 bekannten menschlichen Teratogenen an nicht-menschlichen Primaten zeigten allerdings deren Unzulänglichkeit als Modell für den Menschen: Nur 8 dieser Wirkstoffe erzeugten auch in mindestens einer Primatenspezies teratogene Effekte. Die anderen 7 für den Menschen fruchtschädigenden Wirkstoffe zeigten keine derartigen Folgen für die nicht-menschlichen Primaten.
- Die wohl meist zitierte Tierrasse, welche die Teratogenität von Thalidomid im Tierversuch widerspiegelte, ist die Kaninchenrasse „Weißer Neuseeländer“: Phokomelie im Nachwuchs trat allerdings erst dann auf, wenn der Mutter die 25 bis 300fache Dosis verabreicht wurde, die beim Menschen zu Fruchtschäden führte. Was jegliche Forschungserkenntnisse zum Thalidomid-Skandal relativiert, ist die Tatsache, dass die intensive Forschung am Tier NACH der „Contergan-Tragödie“ stattfand. D.h. die Forscher konnten gezielt am Tier nach Mensch-ähnlichen teratogenen Schäden suchen und fanden diese in nur einigen wenigen Spezies. D.h. zugleich: Im Vorfeld diese möglicherweise EINE richtige Spezies zu finden, die auf einen Wirkstoff in ähnlicher Form reagiert wie der Mensch, bleibt reiner Zufall. Ein Mehr an Tierversuchen hätte folglich in den 1950er Jahren zu einem Durcheinander an Daten geführt. Auch mit dem heutigem Wissensstand und den heutigen technischen Möglichkeiten hätten die fruchtschädigenden Folgen im Tierversuch nicht vorhergesagt werden können.
4. Und: Heutige Teratogenitätstests basieren immer noch auf der irrtümlichen Annahme, Forschungsergebnisse aus Tierversuchen wären auf den Menschen übertragbar. Allein die Tatsache, dass neun von zehn neuen Wirkstoffen in klinischen Versuchen versagen, da die Ergebnisse aus den Tierversuchen nicht die Reaktionen des menschlichen Organismus widerspiegeln, spricht Bände. Der Schluss, den die Autoren daraus ziehen, ist, dass das ideale Modell für den Menschen nur der Mensch selbst sein kann. Dies verhindere auch, dass möglicherweise für den Menschen hochwirksame Wirkstoffe durch „falsche“ Ergebnisse am Tier verloren gehen.
Originalartikel
Greek, R.; Shanks, N. and Rice, M. J.: The History and Implications of Testing Thalidomide on Animals. The Journal of Philosophy, Science & Law 2011: 11; 1-32
11. Juni 2018
Die Vorhersagbarkeit von Tierversuchsergebnissen im Hinblick auf schwere Nebenwirkungen nach Markteinführung von Medikamenten liegt bei nur 19%. Das bedeutet, 81% der bei Menschen aufgetretenen schweren Nebenwirkungen waren im Tierversuch nicht erkannt worden, so das Fazit einer niederländischen Studie.
Im Mai 2012 veröffentlichte ein 5-köpfiges Forscherteam der Universität Utrecht eine retrospektive Studie zur Qualitätssicherung im Bereich der Zulassung von neu entwickelten Medikamenten in der englischen Fachzeitschrift Regulatory Toxicology and Pharmacology.
Ziel dieser Untersuchung war es, herauszufinden wie hoch der Vorhersagewert von Studienergebnisse aus Testungen an Tieren für die Medikamentensicherheit ist, d.h. ob bereits in der vorklinischen Testphase (also VOR der Untersuchung an freiwilligen menschlichen Probanden) schwere Nebenwirkungen, die beim Patienten erst nach der Markteinführung auftreten können, erkennbar sind.
Die Wissenschaftler prüften in diesem Zusammenhang 43 Medikamente, bei denen insgesamt 93 schwerwiegende Nebenwirkungen aufgetreten waren.
Es handelte sich um Arzneimittel aus zahlreichen Fachbereichen der Medizin, z.B. der Gastroenterologie, Onkologie, Immunologie, Kardiologie, Dermatologie, Orthopädie, Neurologie u.a.
Als schwere Nebenwirkungen wurden Erkrankungen des peripheren Nervensystems, Blutungen und Durchbrüche im Verdauungstrakt, Nierenschäden, Herzinfarkte, Blutbildveränderungen mit Zerstörung der roten Blutkörperchen, vermehrtes Auftreten von Depressionen und plötzliches Einschlafen beschrieben.
Von den insg. 93 ernsten Nebenwirkungen bei 43 verschiedenen Medikamenten waren nur 19% zuvor im Tierversuch identifiziert worden.
Das bedeutet, dass die Sensitivität von Tierversuchen zur Prognose von schweren Nebenwirkungen beim Menschen lediglich 19% beträgt.
Originalartikel
Peter J.K. van Meer, Marlous Kooijman, Christine C. Gispen-de Wied, Ellen H.M. Moors, Huub Schellekens: The ability of animal studies to detect serious post marketing adverse events is limited. Regulatory Toxicology and Pharmacology 2012: 64(3); 345-349
23. Oktober 2018
- begrenzte Übertragbarkeit auf den Menschen und ein möglicher Weg für die Zukunft
Amerikanische Wissenschaftler vom Physicians Committee for Responsible Medicine, Washington, DC, gehen in einer in der Fachzeitschrift ATLA erschienenen Studie der Frage nach, inwieweit Diabetes Typ 2 im „Tiermodell“ erforscht werden kann und welche human-basierten Forschungsmethoden es gibt.
Weltweit litten 2014 geschätzt 422 Millionen Menschen an Diabetes (90-95 % Typ 2) gegenüber 108 Millionen 1980. Und die Zahl der Erkrankungen steigt weiter an. Deshalb ist es dringend notwendig, das Wissen über die Krankheitsentwicklung zu verbessern und effektive vorbeugende und therapeutische Maßnahmen für diese Erkrankung zu entwickeln, welche von sehr vielen Faktoren wie Genetik, Lebensstil und Umwelt beeinflusst wird.
Die Limitierung der „Tiermodelle“ bei Typ 2 Diabetes
Die Regulierung des Zuckerhaushaltes erfordert ein komplexes Zusammenspiel zwischen verschiedenen Zelltypen, Geweben und Organen (Gehirn, Leber, Nieren, Skelettmuskulatur, Bauchspeicheldrüse und Fettgewebe). Das ideale Krankheitsmodell sollte die menschlichen Ursachen, Krankheitsentstehung und -ausbruch, Komplikationen und Medikamentenwirkung beinhalten. Kein „Tiermodell“ kann diese Forderungen erfüllen. Denn Tiere unterscheiden sich in allen Bereichen der physiologischen Blutzuckerregulation signifikant vom Menschen, u. a. Zellaufbau der Bauchspeicheldrüse, Insulinsignal, neuronale Kontrolle des Glukosespiegels und Insulinregulation des Glukosetransports. Diese unveränderbaren speziesspezifischen Unterschiede werden weiter durch biologische Variationen (z. B. Alter, Geschlecht, Zuchtlinie) der benutzten Tiere und der Problematik, Diabetes Typ 2 bei diesen Tieren überhaupt auszulösen verkompliziert.
Mit verschiedenen „Tiermodellen“ wurden die beiden Hauptmerkmale der Zuckerkrankheit, Insulinresistenz und Pankreasdysfunktion, ausgiebig untersucht. Trotz des Wissens, das auf die Weise erworben wurde, bleiben viele Details der Krankheitsentstehung beim Menschen im Dunkeln, therapeutische Möglichkeiten sind immer noch sehr begrenzt und eine Heilung hat die Forschung bislang nicht erzielen können.
Am Menschen gewonnene Daten lassen Bedenken an der Übertragbarkeit der Tierversuchsergebnisse in die Klinik aufkommen. Daher ist es wichtig, die Diskrepanz zwischen Grundlagenforschung am Tier und den klinischen Fortschritten, die zur Vorbeugung und Behandlung von Diabetes Typ 2 dringend gebraucht werden, zu erkennen und anzugehen.
Human-basierendes Modell
Aktuelle Publikationen über Diabetes zeigen, dass human-basierende Modelle viel besser geeignet sind, die verschiedenen Aspekte der genetischen, biochemischen und physiologischen menschlichen Glukoseregulation zu untersuchen. So können In–vitro- („im Reagenzglas“) und In-vivo- („im Lebenden“) Modelle genutzt werden, um die Funktionsstörungen im Rahmen einer Diabetes-Typ 2-Erkrankung zu untersuchen.
Grundlage dieser Methoden sind menschliche Zellen. Diese werden aus Stammzellen, Gewebe-/Organproben gewonnen oder entstammen menschlichen Zelllinien. Allerdings sind aktuell nur wenig menschliche Zelllinien erhältlich. Dies muss geändert werden, so dass eine große Auswahl an menschlichen Zelllinien verschiedener Gewebe zu Verfügung steht.
Die gewonnenen Zellen können unter In-Vitro-Bedingungen untersucht oder mit ihnen kann der menschliche Glukosestoffwechsel simuliert werden. Dafür gibt es sowohl 2D-Modelle als auch 3D-Modelle, welche die Zellarchitektur der Organe nachbilden.
Da die genannten Modelle einen tiefgreifenden Einblick in die Krankheitsprozesse auf Zellebene ermöglichen, eignen sie sich für die Grundlagenforschung als auch für vorklinische Studien und Giftigkeitsprüfungen.
Nichtinvasive (ohne Verletzung des Gewebes) und einige minimal-invasive Untersuchungen direkt am Menschen ermöglichen einen Einblick in die humane Glukoseregulation. Diese werde im klinischen Alltag benutzt und sind auch für die Grundlagenforschung bzw. präklinischen Untersuchungen geeignet.
Epidemiologische Studien, d.h. Bevölkerungsstudien, geben Einblick in Risikofaktoren, welche durch den Lebensstil und andere Faktoren (z. B. Genetik, Darmflora) bedingt sind.
All diese Untersuchungen sollten beim Menschen erfolgen, da es zwischen Mensch und Tier große speziesspezifische Unterschiede (auch zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen) gibt.
In-silico-Modelle
Computer-basierte Modelle, die mit bereits leicht zugänglichen Datenbanken arbeiten, ermöglichen die Abbildung jeder Ebene der Erkrankung. So lassen sich die verschiedenen Entstehungen, Verlaufsformen und Risikofaktoren des Diabetes Typ 2 untersuchen. Beispielsweise gibt es bereits Untersuchungen bezüglich der Insulin-Resistenz unter verschiedenen Ernährungsbedingungen.
Fazit
Trotz jahrzehntelanger Forschung, vor allem an Tieren, ist das Wissen über die Mechanismen des Diabetes mellitus inkomplett. Die großen Datenmengen der Tierversuche lassen sich nicht auf den Menschen übertragen. Deshalb führen die präklinischen Erfolge, die in der Diabetesforschung bei Tieren erzielt wurden, nicht automatisch zu präventivem oder therapeutischem Erfolg.
Ein Wechsel zu humanbasierender Forschung sollte das Ziel der weiteren Forschung sein, da sich nur dadurch genaue Information und Therapiemöglichkeiten über diese für den Menschen so wichtige Krankheit gefunden werden können.
Originalartikel
Zeeshan Ali, P. Charukeshi Chandrasekera, John J. Pippin: Animal Research for Type 2 Diabetes Mellitus, Its Limited Translation for Clinical Benefit, and the Way Forward. ATLA 2018; 46: 13-22
8. Januar 2019
Jährlich werden weltweit mindestens 115 Millionen Tiere in der biomedizinischen Forschung benutzt. Tierversuche sollen dabei Rückschlüsse auf Biologie und Krankheiten des Menschen ermöglichen, sowie der Sicherheit und Wirksamkeit potenzieller Behandlungen dienen. Aber trotz dieses immens hohen Aufwands an Ressourcen, das Leid der Tiere eingeschlossen, wurde die Effektivität von Tierversuchen bisher viel zu wenig systematisch überprüft.
Auch die weitgehende Akzeptanz, dass Medizin evidenzbasiert sein soll, führte nicht dazu, dass Tierversuche an diesem Standard gemessen wurden. Tierexperimentelle Forschung gilt weiterhin als Goldstandard der vorklinischen Testung. Eine kritische Untersuchung der Gültigkeit dieser Prämisse findet bisher nicht statt.
Das Problem der Übertragung tierexperimenteller Daten auf den Menschen
Obwohl die Unzuverlässigkeit und die Grenzen der Tierversuche zunehmend erkannt werden, besteht in der biomedizinischen Wissenschaft die allgemeine Meinung, dass diese Probleme überwunden werden können. Dagegen sprechen aber folgende Punkte, die unterstreichen, warum Tierversuche keine zuverlässigen Informationen über die menschliche Gesundheit liefern können:
- Der Einfluss von Laborumgebung und Prozeduren auf die tierexperimentellen Ergebnisse: Viele Studien belegen mittlerweile die Auswirkungen der künstlichen Laborbedingungen. Dabei ist nicht nur das Handling der Tiere von Bedeutung, sondern auch z.B. Parameter wie Bodenbelag, Käfiggröße, Lärmpegel usw. Es kommt dadurch bei den Tieren beispielsweise zu Veränderungen in der Neurochemie, Genexpression und Nervenregeneration. Der Cortisonspiegel steigt an und Blutdruck und Herzfrequenz erhöhen sich z.B. durch Manipulationen oder, wenn die Tiere ihre Artgenossen leiden sehen.
- Die Diskrepanz zwischen menschlicher Krankheit und „Tiermodell“: Menschliche Krankheiten sind in ihrer Entstehung und Ausprägung sehr komplex. Deshalb, und weil die Symptome der Krankheiten im Tier künstlich erzeugt werden, ermöglicht die Forschung an „Tiermodellen“ kaum klinisch relevante Ergebnisse. Beispiele für den erfolglosen Einsatz von „Tiermodellen“ findet man in der Forschung bezüglich Schlaganfall, Krebs, Amyotrophe Lateralsklerose (ALS), Schädel-Hirn-Trauma, Alzheimer-Krankheit und entzündlichen Zuständen.
- Artübergreifende Unterschiede in Physiologie und Genetik Neben den Abweichungen zwischen dem „Tiermodell“ und der menschlichen Krankheit, gibt es starke Unterschiede zwischen den Spezies in Bezug auf Physiologie, Verhalten, Pharmakokinetik und Genetik, die die Zuverlässigkeit von Tierversuchen erheblich in Frage stellen. Sogar Tiere derselben Art, aber verschiedener Stämme oder desselben Stammes „produzieren“ unterschiedliche Testergebnisse. Auch beträchtliche Eingriffe in die Genetik der Tiere im Rahmen der Gentechnik konnten dieses Manko nicht umgehen. Denn selbst wenn menschliche Gene in das Erbgut der Tiere eingebaut werden, ist der Wirtsorganismus immer noch kein Mensch. Sogar aus Tierversuchen an nichtmenschlichen Primaten lassen sich keine übertragbaren Aussagen zu menschlichen Reaktionen ableiten. Daraus ist zu folgern: Wenn Ergebnisse aus Tierversuchen an unseren engsten genetischen Verwandten nicht zuverlässig sind, wie können wir erwarten, dass Tierversuche an anderen Tieren zuverlässig sind?
Der kollektive Schaden, der aus fehlgeleiteten Tierversuchen resultiert
Vielfach wird argumentiert, dass Informationen, die wir durch Tierversuche erhalten, besser sind als gar keine Informationen. Diese These negiert, dass irreführende Informationen schlimmer sein können als gar keine Informationen. Denn der Einsatz von Tierversuchen kann menschliches Leid auf mindestens zwei Arten verursachen:
- Die Untersuchung der Giftigkeit einer Substanz an Tieren hat einen geringen Vorhersagewert, ob diese für den Menschen giftig ist. Durch Tierversuche wird eine Sicherheit und Effektivität vorgetäuscht, welche nicht vorhanden ist (s.o.).
- Menschen erleiden indirekt Schaden dadurch, dass erfolgversprechende Medikamente nicht weiter verfolgt werden, da die Ergebnisse im Tierversuch nicht ausreichend waren. Beispiele hierfür sind Tamoxifen (ein sehr wirksames Mittel gegen bestimmte Arten von Brustkrebs) und Gleevec (hilfreich bei einer Blutkrebsart). Beide Medikamente verursachen – im Gegensatz zum Menschen – bei mehreren Tierarten hochgradige Nebenwirkungen.
Tierversuche können also Forscher in eine falsche Richtung leiten, Zeit und Ressourcen werden verschwendet, über 96 Prozent der getesteten Substanzen fallen durch. Dabei gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Testmethoden an menschlichen Organzellen, welche für die Forschung eingesetzt werden können. Diese weiter zu entwickeln ist eine Frage der Priorität!
Originalartikel
Akhtar A: The flaws and human harms of animal experimentation. Cambridge Quarterly Healthcare Ethics 2015; 24: 407-419
8. Juni 2020
Gesetzlich müssen alle neuen Medikamente erst an Tieren getestet werden, bevor sie in die sogenannten klinischen Studien an Menschen kommen. Aber nur weniger als 10% der im Tierversuch erfolgreichen Medikamente werden nach der Testung an Menschen für den Markt zugelassen. Die Autoren beschreiben die vielfältigen Probleme sowohl für die Patienten als auch für die Pharmaindustrie, die durch die mangelhafte Vorhersagekraft von Tierversuchen entstehen, und ihre möglichen Lösungen, für die Gesetzesänderungen nötig sind.
Aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse über die Tierversuchsforschung
Die regulatorischen Anforderungen zur Prüfung neuer Wirkstoffe an Tieren beruhen auf falschen Annahmen. Denn sowohl Menschen als auch andere Tierarten sind komplexe biologische Systeme, deren Erbgut sich im Laufe der Evolution über lange Zeit unterschiedlich (weiter)entwickelt hat. Aber auch kleinste Unterschiede der Gene bei Artgenossen derselben Spezies können zu verschiedenen Reaktionen auf Medikamente oder Krankheiten führen oder gar zwischen Leben oder Tod entscheiden. Dazu kommen weitere Unterschiede in der Genregulation und Genexpression, die die Besonderheiten in den Reaktionen auf Medikamente oder Krankheiten der verschiedenen Spezies vergrößern. Deswegen kann man anhand von Tierversuchen nicht vorhersagen, welche Reaktionen bei Menschen durch Medikamente oder andere Prozesse hervorgerufen werden.
(Gesundheitliche) Kosten auf dem Rücken von Patienten
Ein gutes Medikament muss verträglich sein sowie die Symptome der Patienten erfolgreich beheben können. Zahlreiche Beispiele beweisen, dass Tierversuche bei diesen beiden Punkten versagen. Das heißt, im Tierversuch als sicher und wirksam erwiesene Medikamente wirken beim Menschen nicht oder verursachen (hochgradige) Nebenwirkungen. Hinzu kommen Medikamente, die erst sehr viel später nach Ihrer ursprünglichen Entdeckung als sicher eingestuft und damit zur Nutzung freigegeben werden, weil sie ursprünglich im Tierversuch als nicht wirksam oder schädlich aussortiert wurden. Es ist davon auszugehen, dass viele Patienten durch diesen Umstand direkt und indirekt länger als nötig gelitten haben oder gar frühzeitig gestorben sind.
Beispiele für fehlende Medikamentensicherheit
- Fenfluramin und Phentermin (Fen-phen) - die zugelassene Medikamentenkombination zur Appetitzüglung musste vom Markt genommen werden, weil sie bei 30% der Menschen ernste Herzklappenschäden verursachte.
- Thalidomid (bekannt als Contergan), zugelassenes Medikament gegen Übelkeit für Schwangere in den 50er und 60er Jahren, hat Missbildungen bei mehreren Tausend Neugeborenen verursacht.
- Entzündungshemmer Vioxx (Rofecoxib) führte zu Herz-Kreislauferkrankungen, Herzinfarkten und Schlaganfällen.
- Rezulin (Troglitazone), als Antidiabetikum zugelassenes Medikament, verursachte Leberversagen.
- Propulsid (Cisaprid), zugelassenes Medikament zur Erhöhung der Peristaltik des Magen-Darmtraktes, führte zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen.
- TGN1412 kam zwar nie auf den Markt, verursachte aber bereits in der klinischen Phase I lebensbedrohliches Multiorganversagen selbst bei 500-mal kleineren Dosen als denen, die in Tierversuchen als sicher galten.
- Fialuridin wurde als mögliche Therapie für eine Hepatitis-B-Virusinfektion untersucht, führte jedoch zum Tod von Probanden.
- Rauchen wurde gerade durch Tierversuche sehr lange als nicht schädlich betrachtet, da es keinen Lungenkrebs in anderen Spezies hervorrief.
- Eine Studie hat 93 hochgradige Nebenwirkungen von Medikamenten bei Menschen analysiert und herausgefunden, dass nur 19% davon in Tieren beobachtet werden können.
Beispiele für fehlende Wirksamkeit
37% aller Medikamente fallen bereits in der ersten klinischen Phase am Menschen durch, 55% in Phase 2 und 12,6% in Phase 3. Die Durchfallrate steigt dabei über die Jahre zunehmend an. Die meisten Misserfolge, genauer gesagt 66%, sind dabei auf die fehlende Wirksamkeit zurückzuführen, gefolgt von 21% aufgrund von Sicherheitsproblemen (unerwünschte Nebenwirkungen). Im Folgenden eine Auflistung von einigen Beispielen fehlender Wirksamkeit:
- Im Rahmen der Krebsforschung ist es mehrfach gelungen, Krebs bei Mäusen zu heilen, jedoch nicht beim Menschen.
- Die klinische Studie für das Alzheimer-Medikament Semagacestat musste unterbrochen werden, da das Medikament bei Menschen nicht wirkte bzw. deren Symptome (Probleme im Bereich der Kognition) sogar noch verschlimmerte.
- Ungefähr 100 Impfstoffe gegen HIV- und HIV-ähnliche Viren erwiesen sich bei Tieren als wirksam, jedoch nicht beim Menschen.
- Über 1000 Medikamente konnten erfolgreich in „Tiermodellen“ gegen eine Schädigung des Nervensystems durch Schlaganfall schützen (es wurden Hunderte von Experimenten durchgeführt), blieben jedoch erfolglos beim Menschen.
- Mehr als 20 Medikamente waren erfolgreich bei Rückenmarksverletzungen in „Tiermodellen“, jedoch keins davon beim Menschen.
- Über 100 Medikamente wurden zur Behandlung bei Amyotropher Lateralsklerose (ALS) eingesetzt, kein einziges davon hat bei betroffenen Patienten in klinischen Studien gewirkt.
- Das Medikament Saridegib führte bei Mäusen mit Krebs zu einer 5-fach höheren Überlebensrate, zeigte aber beim Menschen keinen positiven Effekt.
Beispiele für verträgliche und wirksame Medikamente, die aufgrund von Tierversuchen aussortiert worden wären bzw. sind
Da die Pharmaindustrie und andere Forscher und Beteiligte in der Medikamentenentwicklung sich auf „Tiermodelle“ verlassen, verhindert das die Entdeckung neuer sicherer und effektiver Medikamente. Aufgrund der fehlenden neuen Medikamente und Therapien, leiden Betroffene länger oder sterben gar frühzeitig. Dass dies die Realität darstellt, zeigen verschiedene Fälle aus der Vergangenheit, in denen heute sehr bekannte und wirksame Medikamente oftmals nur durch Zufall und trotz mangelhafter Tierversuche entdeckt wurden.
- Penicillin (Antibiotikum)
- Polio-Impfung
- Pyrazinamid (Tuberkulostatikum)
- Furosemid (Diuretikum/harntreibendes Mittel)
- Isoniazid (Antibiotikum zu Behandlung von Tuberkulose)
- Digoxin (Herzmittel)
- Acetaminophen (Schmerzmittel in Paracetamol)
- Chloramphenicol und Metronidazol (Antibiotika)
- Tacrolimus (Immunsuppressivum)
- Nabilon (Betäubungsmittel)
- Phenobarbital (Betäubungsmittel, Epilepsiemittel)
- Tamoxifen (Brustkrebstherapie)
Finanzielle Kosten auf dem Rücken der Patienten
Es ist leider unmöglich, die finanziellen Kosten exakt und vollständig zu schätzen, die Patienten auch dadurch mittragen, dass es nicht gelingt, sichere und effektive Therapien zu finden. Als Beispiel nennen die Autoren hier Sepsis (Blutvergiftung), um sich ein Bild von den Dimensionen machen zu können. Durch die Sepsis-Forschung an Mäusen wurden Medikamente entwickelt, die sich zwar bei Mäusen als wirksam und sicher erwiesen, sich jedoch letztendlich unwirksam beim Menschen herausstellten und damit nicht zu nutzen waren. Umgerechnet hat allein die Medikamentenentwicklung und Forschung zu Sepsis den betroffenen Patienten in Krankenhäusern etwa 14 Milliarden US Dollar pro Jahr gekostet. Andere sehr teure Medikamente, die gleichzeitig sehr ineffizient sind, gibt es für Krebs, Herzkranzgefäßerkrankungen, Herzinsuffizienz, Schlaganfall und Lungenerkrankungen.
(Finanzielle) Kosten auf dem Rücken anderer Interessensgruppen
Die hohe Fehlerrate in der Medikamentenentwicklung, die überwiegend auf die mangelhafte Vorhersagekraft der Tierversuche zurückzuführen ist, ist mit hohen Verlusten auch für die Pharmaindustrie verbunden, da die Entwicklung eines Medikaments durchschnittlich 5,8 Milliarden US Dollar beträgt. Andere Interessensgruppen, z. B. die Teilnehmer klinischer Studien, die einem unbekannten, häufig hohen Risiko ausgesetzt werden, sind ebenfalls durch die Tierversuche benachteiligt. Dazu kommen auch die nächste Generation an Nachwuchswissenschaftlern, die statt neuen, modernen und vielversprechenden Methoden (z.B. Microdosing, Gen-basierte Medizin) immer noch Tierversuche nutzen, und nicht zuletzt wir als Steuerzahler selbst. Alle tragen direkt oder indirekt die Kosten dafür, dass man sich weiterhin auf Tierversuche verlässt.
Wenn Tierversuche irreführend sind, wieso werden sie dann gemacht?
Dies ist laut Autoren größtenteils auf bestimmte geschichtliche Hintergründe und Ereignisse zurückzuführen. Dazu gehören die entsetzlichen Menschenversuche zur nationalsozialistischen Zeit und zwei größere medizinische Desaster mit Contergan und Ethylenglycol in den USA. Daraufhin wurden im Nürnberger Kodex und der Deklaration von Helsinki erstmals Tierversuche vorausgesetzt. Viele Länder übernahmen diese Richtlinien, auch die USA. Andere Faktoren, die die Durchführung von Tierversuchen unterstützen, sind mit dem Status quo, der Gesetzgebung, Interessenkonflikten und Geld verbunden.
Eine bessere Option: Personalisierte Medizin
Es gibt bereits zahlreiche vielversprechende und bessere Ansätze als den Tierversuch. Personalisierte Medizin stellt einen solchen modernen Ansatz dar, da individuell auf den jeweiligen Menschen mit seiner jeweiligen Erkrankung eingegangen werden kann.
Auch die Pharmaindustrie ist sich über die neuen Erkenntnisse bewusst. Zwischen 2014 und 2016 basierten bereits mehr als 20 % aller neuen zugelassenen Wirkstoffe durch die FDA (US-Arzneimittelbehörde) auf personalisierter Medizin.
Fazit
Der Artikel zeigt anhand sehr vieler Beispiele, dass es der „Methode Tierversuch“ seit Jahrzehnten an Vorhersagekraft mangelt, um die Sicherheit und Effizienz von Medikamenten zu bestimmen. Nationale Aufsichtsbehörden, wie die FDA und Abkommen wie der Nürnberger Kodex und die Deklaration von Helsinki verlangen Tierversuche vor der Verabreichung eines Arzneimittels an Menschen. Diese gesetzlichen Vorgaben sind jedoch veraltet und müssen geändert werden.
Die Autoren appellieren an die Pharmaindustrie, da diese eine der mächtigsten Lobbys bildet, um diese Änderung bei der FDA anzustoßen. Das Aufzeigen der Kosten und der Verschwendung ist unbedingt nötig, um den Druck durch die Pharmaindustrie auf Entscheidungsträger zu erhöhen, da Universitäten und andere Gruppen, die von Tierversuchen profitieren, ebenfalls eine starke Lobby bilden, welche die „Weiternutzung“ von Tieren in der Forschung fördern.
Originalartikel
Kramer LA, Greek R: Human stakeholders and the use of animals in drug development. Business and Society Review 2018; 123: 3-58
23. November 2020
Krebs ist nach wie vor eine der häufigsten Todesursachen weltweit trotz großem Forschungsaufwand und starker finanzieller Förderung.
Es werden zwei Forschungsmodelle in den Fokus genommen; einmal Patient-derived xenografts (PDX; von Patienten stammende Xenotransplantate) und patient-derived organoids (PDO; von Patienten stammende Organoide) von 3 häufigsten Krebserkrankungen von Brust, Darm und Lunge.
PDX-Modelle sind menschliche Tumore, die durch Injektion von Krebszellen oder Biopsien von Krebspatienten in gentechnisch veränderte Tiere mit geschwächtem Immunsystem erzeugt werden.
PDO-Modelle sind 3-dimensionale Tumor-Organoide, die aus Patientenbiopsien in vitro kultiviert werden und die die individuellen Tumormerkmale konservieren.
In der vorliegenden Studie wurde die gesamte Anzahl der Publikationen aus den Jahren 2014 bis 2019 bestimmt, die von Brust-, Darm- und Lungenkrebs handeln. Dann erfolgte eine Aufteilung in die Modelle PDX oder PDO und teils nach Krebsarten, die analysiert wurden.
Viele Tierversuche, wenig neue Methoden in der Anwendung
Über die Jahre bleibt die Gesamtzahl der Publikationen pro Jahr ähnlich, 2019 ist sie etwas niedriger, die Anzahl der mit klinischen Studien assoziierten Publikationen sinkt über die Zeit leicht. PDX ist das bevorzugte Forschungsmodell mit 6.751 Publikationen und 38 Publikationen mit klinischem Bezug.
Dem stehen 130 Publikationen für PDOs gegenüber, bei denen sich ein Anstieg über die Jahre beobachten lässt. Aufgrund der geringen Gesamtanzahl verwundert es wenig, dass lediglich eine Publikation einen klinischen Bezug aufweist. Mit fast 70% Anteil werden vor allem Darmorganoide genutzt. Man muss hierbei bedenken, dass die PDX-Technologie im Gegensatz zu PDOs seit Jahrzehnten etabliert ist.
Tierfreie, humanbasierte Forschung ist stark unterfinanziert
Die finanzielle Förderung in den USA und UK erhöhte sich über die Jahre für alle 3 Krebsarten; insbesondere die Brustkrebs-Forschung wird stark finanziert. Auffällig ist, dass oft tierfreie und tierbasierte Ansätze innerhalb des gleichen Projekts verfolgt werden. Problematisch und intransparent ist, dass den Publikationen häufig nicht zu entnehmen ist, ob es sich um eine rein tierversuchsfreie Forschung handelt.
Während 127 PDX-Projekte mit insgesamt 53 Mio. US-Dollar gefördert werden, fallen für die 10 PDO-Projekte 4,4 Mio. US-Dollar ab.
In der EU wurden 13 PDX-Projekte mit 18 Mio. € (durchschnittlich 1,5 Mio. €) gefördert und 5 PDO-Projekte mit 4,7 Mio. € (durchschnittlich 0,9 Mio. €). Generell ist in der EU humanrelevante, tierfreie Forschung massiv unterfinanziert: hier werden lediglich 0,036% der Forschungsgelder investiert.
In der EU werden knapp 10 Mio. Tiere pro Jahr in Tierversuchen verwendet. 70% davon sind Mäuse, die wiederum 90% der in der Krebsforschung eingesetzten Tiere ausmachen. In den USA werden bei den Tierversuchszahlen Mäuse, Ratten, Fische und Vögel ausgeschlossen, so dass hier keine Daten vorliegen, wie viele Mäuse in der Krebsforschung verwendet werden.
Ursachen und Lösungsansätze
Die NIH (National Institutes of Health, USA) investieren ca. 5 Mal mehr Geld in PDX als in PDO. PDO aber erhalten die patienten- und tumorspezifische Biologie, Gen-Medikamenten-Interaktionen können untersucht werden, Biobanken werden ermöglicht, Mittel/Hochdurchsatzfähigkeit ist gegeben, so dass sie schneller und günstiger sind. Sie weisen daher ein höheres und vielversprechenderes Potential auf als ineffiziente „Tiermodelle“. Allerdings müssten Organoid-Modelle für komplexere Krebsarten (z.B. Glioblastoma) verbessert werden – auch hier wäre verstärkte finanzielle Förderung wichtig.
Diese Gelder sollten laut Autoren auch nicht dazu eingesetzt werden, um Organoide gegen Tiermodelle zu validieren, sondern um herauszufinden, wie gut Organoide die menschliche Physiologie widerspiegeln und wie somit Therapien entwickelt und/oder verbessert werden können. Die Erfolgsrate für Krebsmedikamente liegt bei unter 4%; diese Quote hat sich über 15 Jahre nicht wesentlich verändert.
Neben vielen Faktoren scheint der Hauptgrund dafür die suboptimale präklinische Testung (d.h. die überwiegend tierexperimentelle Phase) zu sein. Daher ist es wichtig, humanbasierte Methoden voranzubringen, um schneller Resultate neuer Medikamente oder Medikamenten-Kombinationen zu erhalten und schneller diese in der Klinik zu testen, zumal Krebsmedikamente der größte Kostenfaktor im Gesundheitswesen sind.
Dass es im Rahmen der vorliegenden Analyse nur eine PDO-Publikation mit klinischem Bezug gibt, lässt vermuten, dass es Hindernisse in der Anwendung der neuen Methoden gibt. Würde es sich um die Zulassung von neuen Medikamenten handeln, wäre es erklärbar, da bestimmte Tierversuche gesetzlich vorgeschrieben sind, aber es handelt sich hier um Grundlagen- und angewandte Forschung, wo Tierversuche nicht vorgeschrieben sind.
Mögliche Gründe sind: regulatorische Passivität, geringe Finanzierung, Nichtverfügbarkeit von menschlichem Gewebe, Mangel an Anreizen, das Potenzial von tierversuchsfreien Methoden zu erforschen, fehlende Verfügbarkeit von Informationen über geeignete Ersatzmodelle, mangelnde Integration von In-vitro- und In-vivo-Forschung und die Möglichkeit, dass Tradition und Konservatismus dazu führen könnten, dass Forscher zögern, das Potenzial von tierversuchsfreien Ersatzmethoden zu erforschen.
Hier muss mit geeigneten Maßnahmen wie vermehrte finanzielle Förderung von humanrelevanten Forschungsprojekten und Trainingsprogramme für diese Methoden gegengesteuert werden.
Originalpublikation
Lindsay J. Marshall, Marcia Triunfol, Troy Seidle. Patient-Derived Xenograft vs. Organoids: A Preliminary Analysis of Cancer Research Output, Funding and Human Health Impact in 2014–2019. Animals 2020; 10 (1923); doi:10.3390/ani10101923
11. März 2021
Die Studie beschreibt, wie die konsequente Anwendung der vielversprechenden Organ-auf-dem-Chip (OoC) Technologie die Kosten in der Medikamentenentwicklung um 10–26% reduzieren kann. Dies entsprächen bis zu 700 Millionen US Dollar pro Medikament. Die Autoren argumentieren, dass die OoCs bessere Vorhersagen als die üblichen Methoden zum Testen von Medikamentenkandidaten wie Tierversuche und einfache 2D-Zellmodelle machen. Laut der Studie würde die Anwendung von OoCs zu genaueren Resultaten in der präklinischen Phase der Medikamentenentwicklung führen, was die Kosten direkt und signifikant senken, die Erfolgsquote erhöhen und die Entwicklungszeiten verkürzen wird.
Pharmaunternehmen rechtfertigen die hohen Arzneimittelpreise häufig mit den Kosten für die pharmazeutische Forschung und Entwicklung (R&D), die ca. 660 Mio. – 2,76 Milliarden US Dollar pro Medikament betragen. Die Hauptkostentreiber sind die Erfolgsraten, die Entwicklungszeit und die direkten Projektkosten. Diese Kostentreiber unterscheiden sich erheblich zwischen den R&D-Phasen. Die präklinische Phase, an deren Ende die Sicherheit und Wirksamkeit von Medikamentenkandidaten an Tieren getestet wird, kostet viel weniger als die drauf folgenden klinischen Phasen I-III mit menschlichen Probanden und Patienten. Etwa 60–75% aller Projekte, die in den billigen nicht-menschlichen präklinischen Phasen erfolgreich sind, scheitern in der teuren Phase II und 20–30% in Phase III. Zu etwa 50% ist dies auf eine unzureichende Wirksamkeit des Medikaments und zu 15–25% auf Sicherheitsbedenken zurückzuführen. Das Versagen in der klinischen Phase wird daher als Haupttreiber der R&D-Kosten angesehen und ein Hauptgrund dafür ist die mangelhafte Vorhersagekraft von tierexperimentellen Studien und einfachen In-vitro-Modelle für die menschliche Physiologie.
Die Autoren der Studie befragten 15 Experten aus den Bereichen der OoC-Technologie und Forschung und Entwicklung, um abzuschätzen, wie sich die Anwendung von OoCs auf die R&D-Kosten in den nächsten 5 Jahren auswirken würde. Dabei wurden gefragt, welche R&D-Phasen am meisten von den OoCs beeinflusst werden können und wie sich die drei Hauptkostentreiber – Erfolgsrate, Entwicklungszeit und Projektkosten - verändern würden.
10-26% niedrigere Medikamentenentwicklungskosten
Die Experten schätzten, dass die Anwendung von OoCs die R&D-Kosten um 10–26 % in 5 Jahren reduzieren würde, was zwischen 66 – 169 bis 276 - 706 Millionen US Dollar pro Medikament bedeuten würde. Die meisten Einsparungen wären in der präklinischen Phase möglich, bei der die Experten 73% niedrigere Projektkosten, 80% höhere Erfolgsquoten und 40% niedrigere Entwicklungszeiten erwarten, die aus dem Einsatz der OoCs resultieren würden.
Die Experten schätzen, dass dank der besseren Vorhersagekraft der OoCs schnelle und bessere Entscheidungen bei der Auswahl der Medikamentenkandidaten für die teuren klinischen Studien getroffen werden können. Die meisten Vorteile werden bei der Testung der Wirksamkeit gesehen.
Regulatorische Anerkennung dringend erforderlich
Damit OoCs grundsätzliche Verbesserungen im R&D-Prozess und bei den Kosten der Medikamentenentwicklung erzielen können, müssen diese Modelle sowohl biologisch als auch technisch weiterentwickelt werden, um die menschliche Physiologie besser nachzuahmen und leicht automatisierte Analysen zu ermöglichen. Ein sehr wichtiger Aspekt ist die regulatorische Anerkennung der OoCs als zugelassene Testsysteme in der präklinischen Phase.
Fazit
Mittels breiter Anwendung von OoC statt Tierversuchen könnten die Kosten in der Medikamentenentwicklung um 10 – 26% reduziert werden, was bis zu 706 Millionen US Dollar weniger pro Medikament entspricht. Die Kostenersparnis wäre vor allem auf die stark erhöhte Vorhersagekraft der OoCs gegenüber Tierversuchen zurückzuführen, wodurch es weniger Ausfälle in den klinischen Phasen gäbe.
Dr. Dilyana Filipova
Originalartikel
Nora Franzen, Wim H. van Harten, Valesca P. Retèl, Peter Loskill, Janny van den Eijnden-van Raaij, Maarten I Jzerman: Impact of organ-on-a-chip technology on pharmaceutical R&D costs. Drug Discovery Today 2019; 24: 1720-1724
Wichtige Erkenntnisse durch Mini-Brains vom Menschen
11. März 2021
Die Suche nach der Ursache für Tuberöse Sklerose, eine neurologische Entwicklungsstörung, erfolgte bisher vor allem in „Mausmodellen“. Eine Studie mit Mini-Brains von Patienten stellt jetzt die dort gewonnenen Erkenntnisse in Frage.
Die tuberöse Sklerose ist eine seltene neurologische Entwicklungsstörung, die -neben Veränderungen in anderen Organen - vor allem zu charakteristischen Fehlbildungen in der Hirnrinde und zu gutartigen Tumoren in bestimmten Hirnregionen führt. Viele Patienten leiden unter neuropsychiatrischen Symptomen wie epileptischen Anfällen, Autismus und kognitiven Einschränkungen.
Bisher ging man von einer rein genetischen Ursache dieser Erkrankung aus, nämlich der Mutation eines von zwei Genen (TSC1 oder TSC2), die für Proteine kodieren, durch die übermäßiges Gewebewachstum verhindert wird. Aufgrund einer autosomal-dominanten Vererbung sollte dabei als Grundlage für die Entstehung der Erkrankung die Mutation eines Allels von entweder TSC1 oder TSC2 ausreichen. Erfolgt dann zusätzlich eine spontane Veränderung im zweiten Allel, so käme es zur Ausprägung der Symptome. Diese Hypothese stützte sich auf Daten aus Tierversuchen, bei denen man bei Mäusen nach Inaktivierung des entsprechenden zweiten Allels die Krankheit auslösen konnte.
Patientenproben sprachen allerdings gegen diese Erklärung, da deren genetische Analysen nur in den Tumoren den Verlust des zweiten Allels aufwiesen, nicht aber in den Veränderungen der Hirnrinde. Außerdem zeigten die Mäuse nicht das gesamte Spektrum der charakteristischen Krankheitssymptome.
Die Autoren der Studie stellten deshalb die Hypothese auf, dass nicht der Verlust des zweiten Allels, sondern spezifische Aspekte der menschlichen Gehirnentwicklung die Krankheit auslösen könnten. Um dieser Vermutung nachzugehen, züchteten sie aus induzierten pluripotenten Stammzellen von Patienten Hirn-Organoide, die Mutationen im TSC2-Gen trugen. Diese Mini-Brains rekapitulierten dabei das Auftreten von Tumoren und der für die tuberöse Sklerose typischen Veränderungen in der Hirnrinde. Mittels weiterer Untersuchungen (RNA-Sequenzierung und Histologie) wurde mit den sogenannten CLIP-Zellen ein spezifischer Neuronen-Zelltyp identifiziert, dessen Vermehrung durch die Proteine, für die TSC2 bzw. TSC1 kodieren, reguliert wird. Liegt eine Mutation dieser Gene und damit ein Mangel der entsprechenden Proteine vor, so kommt es durch übermäßige Vermehrung der CLIP-Zellen zur Ausbildung der typischen Hirnanomalien (Tumorbildung und Gewebeveränderungen).
Im Laufe der Evolution kam es zu einer Vergrößerung des menschlichen Gehirns, welche auch mit einer Weiterentwicklung der Nerven- und deren Vorläuferzellen begleitet wurde. CLIP-Zellen (Caudal Late Interneuron Progenitors) findet man deshalb nur während einer bestimmten Entwicklungsphase des menschlichen Gehirns, nicht aber bei Mäusen. Laut Autoren verdeutlicht das Ergebnis der Studie, wie wichtig es ist menschliche Modelle für die Erforschung von Krankheiten zu verwenden. Denn für deren Entstehung sind meistens mehrere, vor allem humanspezifische Faktoren relevant, die nicht mit „Tiermodellen“ nachvollzogen werden können.
Quelle:
Eichmüller, L. Oliver et al: Amplification of human interneuron progenitors promotes brain tumors and neurological defects. Science 2022; 375(6579): eabf5546
28. Juli 2022
Präklinische Forschung bezeichnet den Abschnitt der Medikamentenentwicklung, der den klinischen Studien am Menschen vorausgeht. Dieser Abschnitt umfasst sowohl In-vitro-Studien, etwa mit Zellkulturen oder Organoiden, als auch Tierversuche.
Während Tiere und Tiermodelle bereits lange in dieser präklinischen Forschung verwendet werden, war bis vor gut 20 Jahren eine systematische Analyse verschiedener Tierversuchsstudien zu einem bestimmten (potenziellen) Medikament nicht üblich. Ausschlaggebend war der Fall Horn und Limburg, die feststellten, dass die Tierversuchsstudien bei genauer Analyse gar keine vorteilhafte Wirkung zeigten, obwohl diese Annahme der ursprüngliche Grund war, weshalb die Substanz in die klinische Phase eintrat. Neben der Übertragbarkeitsproblematik tat sich nun ein weiteres Problem auf: die Aussagekraft von Tierversuchsstudien in Abhängigkeit von der Durchführung und Interpretation.
UK
Bei 1 von 1000 klinischen Studien wurde eine Meta-Analyse durchgeführt, aber nur bei 1 von 10.000 Tierversuchsstudien. Hieraus ergeben sich 22 klinische Studien mit 6.400 Teilnehmern, die durch eine systematische Bewertung der Tierversuche den Risiken potenzieller Nebenwirkungen hätten entgehen können, zudem hätte dies eine Menge Kosten gespart.
Die Fachpublikation Pound et al. 2004 stellte fest, dass es wenig belastbare Daten dafür gibt, dass Tiere geeignet für präklinische Forschung sind und dass eine systematische Analyse von Tierversuchsdaten dazu beitragen kann, diesen Sachverhalt besser zu beurteilen. In der Wissenschaftswelt sorgte diese Publikation für Unruhe, von Abraten der Publizierung bis hin zu fachlicher Diskreditierung der Autoren. Parallel veröffentlichte die Royal Society eine Art Gegenentwurf, dass Tierversuche einen großen Beitrag zu den medizinischen Erfolgen geleistet hätten – ohne diese Aussagen anhand von Quellen und Referenzen zu belegen.
Nichtsdestotrotz zog dies einige präklinische systematische Reviews nach sich, die finanziell gefördert wurden und auch die CAMARADES-Kollaboration hervorbrachten.
CAMARADES
CAMARADES (Collaborative Approach to Meta-Analysis and Review of Animal Data from Experimental Studies) koordiniert systematische Reviews und unterstützt Wissenschaftler bei selbigen. Zudem gibt sie Empfehlungen zu präklinischer Studienkonzeption. 2007 stellte sie fest, dass von 6 Therapien, die im Menschen einen positiven Effekt hatten, die zugehörigen Tierstudien in nur 2 Fällen im Ergebnis übereinstimmten, in einem Fall die Ergebnisse teilweise übereinstimmten und in 3 Fällen die Ergebnisse von Tier und Mensch nicht übereinstimmten. Dies läge entweder an der Konzeption der Tierstudien oder daran, dass Tiermodelle menschliche Krankheiten und Therapieansprache nicht adäquat widerspiegeln.
Niederlande
2012 wurde von Ritskes-Hoitinga SYRCLE (Systematic Review Centre for Laboratory Animal Experimentation) gegründet, da sie zu der Überzeugung gelangte, dass präklinische systematische Reviews besser geeignet sind, die Ziele des 3R-Konzepts zu erreichen, als dem 3R-Konzept selber zu folgen. Das zuvor von ihr gegründete 3R-Zentrum hatte nicht die erhofften Effekte gezeigt. Durch diese Bemühungen nahm das niederländische Parlament einen Antrag an, der systematische Überprüfungen als verpflichtenden Lerninhalt bei Versuchstierumgang festlegt.
SYRCLE
Das erste Symposium 2012 ging der Frage nach, warum präklinische Tierversuchsstudien niedrigere Standards zu haben schienen, obwohl diese Voraussetzung für die anschließenden Studien in Menschen sind. In Kollaboration mit der Evidence-Based Toxicology Collaboration, die zur ähnlichen Zeit in den USA gegründet wurde, entstand eine Datenbank zu systematischen Reviews von Tierversuchsstudien. Mittels des Anschlusses an Evidence Synthesis International entstand ein weltumspannendes Netzwerk.
SYRCLE erarbeitete Richtlinien, Empfehlungen und Checklisten als Training für Wissenschaftler für größtmögliche Transparenz zur Vermeidung von Mehrfachtestungen. Eine Untersuchung im Auftrag des niederländischen Parlaments zeigte 2014 auf, dass die meisten Wissenschaftler gar nicht mit der Methode der systematischen Reviews vertraut sind, so dass daraufhin ein Workshop gefördert wurde; in 8 Jahren nahmen 400 Wissenschaftler teil. Durch ein e-Learning-Angebot konnten zudem 4.000 Wissenschaftler aus 65 Ländern erreicht werden. Es zeigte sich, dass der Tierverbrauch an der Radbound University, an der SYRCLE gegründet wurde, seit Gründung um 35% zurückging, während im gleichen Zeitraum in den Niederlanden ein Rückgang von lediglich 15 % zu verzeichnen war.
Ergebnisse der systematischen Reviews
Insbesondere im Bereich der neurologischen präklinischen Forschung und in der Schlaganfallforschung, aber auch in anderen Bereichen wurde belegt, dass der Wert der Tierversuchsergebnisse viel zu hoch eingeschätzt wird. Ein schlechtes experimentelles Design, kleine Tierkohorten, fehlende Basisinformationen und die Ignoranz negativer Versuchsergebnisse wurden u.a. als Begründungen angeführt, warum die Ergebnisse aus Tierversuchsstudien keine belastbaren Daten ergeben. Die ARRIVE Richtlinie und die Initiative EQIPD (European Quality in Preclinical Data), letztere mit 58 verfassten Empfehlungen, sollen hier gegensteuern.
Entwicklungen der letzten Zeit
Ritskes-Hoitinga wurde stark aus den eigenen Reihen kritisiert für ihre Meinung, dass Tierversuche um 80 % reduziert werden könnten. Ioannidis bekräftigte aber dies, sprach sogar von 90 %.
Selbst wenn alle möglichen Fehler in tierexperimentellen Studien beseitigt werden könnten, wären aber immer noch die Speziesunterschiede zwischen Tier und Mensch für eine unzuverlässige Übertragung der Ergebnisse verantwortlich. Wird der Nutzen für den Menschen mit dem Leid der Tiere aufgewogen, sind nur weniger als 7 % von insgesamt 212 untersuchten Tierversuchsstudien positiv zu verargumentieren.
Trotz des großen Nutzens der Reviews können auch diese nur eine Bewertung darüber abgeben, wie hoch die Qualität von Tierversuchsstudien ist. Das bedeutet aber nicht, dass dies eine verlässliche Aussage darüber sein muss, wie gut sich diese Ergebnisse auf Menschen übertragen lassen in Hinblick auf die Sicherheit der Probanden und/oder die Effektivität gegen eine Krankheit.
Obwohl die Anzahl systematischer Reviews nach wie vor sehr niedrig ist und es lediglich 2 weitere Symposien gab, wurden SYRCLE 2021 alle Gelder eingestellt.
Nichtsdestotrotz haben die Bemühungen eine Debatte angestoßen, präklinische Tierversuche nicht ethisch, sondern wissenschaftlich offen in Frage zu stellen. Die systematischen Reviews haben nicht nur die Nachteile der Tierversuche an sich offenbart, sondern auch deren Unvermögen, die Reaktion des Menschen vorherzusagen.
Da die Tiermodelle nicht oder nur ungenügend menschliche komplexe Krankheitsbilder widerspiegeln und zudem die Speziesunterschiede bestehen, stellen die Autoren die Frage in den Raum, ob es tatsächlich sinnvoll ist, so viele Gelder in die Verfeinerung der Modelle zu investieren, wenn die Speziesunterschiede und damit die Übertragbarkeitsprobleme sowieso bestehen bleiben.
Größeres Potenzial ohne die translationalen Hindernisse bieten die humanbasierten Forschungsmethoden wie Organoide, Multi-Organ-Chips sowie In-silico-Methoden, die bereits bessere Ergebnisse als Tierversuche liefern. Anscheinend trennt sich die wissenschaftliche Landschaft aber nur ungern von den althergebrachten Methoden: während 80 Autoren von Schlaganfallstudien die Speziesunterschiede als ernstes Problem zugeben, spricht sich nur ein Autor für die Verwendung von humanrelevanten Methoden aus.
Positive Strömungen sind aber zu beobachten: CAMARADES ist nach wie vor aktiv, in Großbritannien schließen einige Tierversuchslabore und das neue Programm „Experimental Medicine“ fokussiert sich auf humanrelevante Methoden. Die Niederlande möchten durch ihren „Transitionsplan“ Vorreiter für humanrelevante Methoden werden und die USA will aus der Verwendung von Säugetieren bei Chemikalientestungen aussteigen. 2021 beschloss das EU-Parlament mit 667 zu 4 Stimmen, dass ein Ausstiegsplan entwickelt werden soll.
Fazit
Selbst, wenn sämtliche tierexperimentelle Studien vermeintlich optimiert werden würden, stehen die Speziesunterschiede einer verlässlichen, sicheren Übertragung der Ergebnisse auf den Menschen im Wege. Anstatt sich auf die Verfeinerung unzulänglicher Tiermodelle zu konzentrieren, sollten lieber humanrelevante Methoden weiterentwickelt und eingesetzt werden, da so das Problem der Übertragbarkeit vermieden wird.
28.07.2022
Dipl. Biol. Julia Radzwill
Originalartikel
Merel Ritskes-Hoitinga, Pandora Pound. The role of systematic reviews in identifying the limitations of preclinical animal research, 2000 – 2022. JLL Bulletin: Commentaries on the history of treatment evaluation 2022