Medizinischer Fortschritt ist wichtig - Tierversuche sind der falsche Weg!
27. März 2014
Die meisten Substanzen, die in Tests an Mäusen wirken, helfen Menschen nicht. Zu diesem Schluss kommt eine Studie, die Ende 2013 im Fachmagazin Science veröffentlicht wurde. Bei der Begutachtung einer Versuchsreihe an Mäusen zur Testung eines Medikamentes zur Behandlung von Schlaganfall offenbarte sich zudem, dass wichtige Ergebnisse unter den Tisch fallen.
An 20 Mäusen wurde ein potentielles Schlaganfall-Medikament getestet. 10 Tiere erhielten die Substanz und 10 ein Placebo. Die Studie kam zum Ergebnis, dass die Substanz wirkt und ein Erfolg ist. Der Neurologe Prof. Ulrich Dirnagl, Leiter des Zentrums für experimentelle Schlaganfallforschung an der Berliner Charité, hatte diese Studie überprüft und festgestellt, dass von den 10 Mäusen, die die Substanz erhielten, im Abschlussbericht nur noch 7 erwähnt werden. Auf Nachfrage erfuhr er, dass die 3 Mäuse frühzeitig an Hirnschlag starben und in der Auswertung nicht weiter berücksichtigt wurden. Hätten sie darin Eingang gefunden, hätte sich gezeigt, dass die Substanz mehr Schaden anrichtet als nützt, so das Fazit der Begutachtung. Die Art der Tierversuchsforschung bezeichnet Dirnagl als steinzeitlich.
Zahlreiche Forscher beklagen den mangelnden Nutzen von Tierversuchen. Prof. Malcolm Macleod von der Universität Edinburgh sichtete im Jahr 2004 Tierversuchsstudien zur Hirnschlag-Forschung. 603 Substanzen waren an Mäusen getestet worden, wovon 374 als wirksam eingestuft wurden. 97 davon wurden am Menschen getestet, wo jedoch nur eine einzige Substanz wirkte. Und diese hatte man nur ausgewählt, weil sie zuvor beim Menschen bei Herzschlag geholfen hatte.
Ähnlich untauglich zeigten sich Tierversuche zur Testung eines Medikaments gegen Amyotrophe Lateralsklerose, eine Erkrankung des motorischen Nervensystems. Alle 70 Substanzen, die sich an Mäusen bewährt hatten, versagten beim Menschen. Dieses Ergebnis deckt sich mit längst bekanntem Wissen. So zeigte eine Studie der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) bereits 2004, dass 92% der potentiellen Medikamente, die sich im Tierversuch als wirksam und sicher erwiesen haben, nicht durch die klinische Prüfung kommen, weil sie gar nicht oder anders wirken oder aber schädlich für den Menschen sind.
Quelle
Jennifer Couzin-Frankel: When mice mislead. Science 2013: 342; 922-925

12. Juni 2014
Den Autoren einer im Mai 2014 in der medizinischen Fachzeitschrift British Medical Journal veröffentlichten Studie zufolge fehlt der Nachweis über den Nutzen von Tierversuchen und Gelder, die in die tierexperimentelle Forschung investiert werden, bleiben einer für Mediziner und Patienten sinnvollen Forschung vorenthalten.
Als Kernaussagen formulieren die Autoren,
- dass die Durchführung, Veröffentlichung und Darstellung von tierexperimenteller Forschung unzureichend ist
- die Situation unethisch ist, da Tiere und Menschen Teil eines Wissenschaftssystems sind, das keine verlässlichen Ergebnisse liefert
- der systematische Nachweis über den klinischen Nutzen von Tierversuchen mangelhaft ist
- eine größere Genauigkeit und Rechenschaftspflicht notwendig ist, um die sinnvollste Verwendung öffentlicher Gelder zu gewährleisten.
In der aktuellen Studie wurde die Literatur nach Hinweisen für den klinischen Nutzen von Tierversuchen durchforstet. Nur 25 Übersichtsarbeiten (Reviews) wurden gefunden, die die These untermauern, dass die tierexperimentelle Forschung eine medizinische Relevanz hat und selbst diese wenigen Veröffentlichungen ließen Zweifel an der Qualität und Aussagekraft aufkommen. Belege dafür würden sich häufen, dass mit Tierversuchen, wenn überhaupt, nur sehr dürftig Vorhersagen für den Menschen getroffen werden können.
Eine Auswertung des britischen Nationalen Zentrums für Ersatz, Verfeinerung und Verminderung von Tierversuchen (NC3Rs) hatte 271 Tierversuche, die zwischen 1999 und 2005 durchgeführt wurden, unter die Lupe genommen. Es zeigte sich, dass nur bei 32 der 271 Versuchen (12 %) der tierexperimentellen Arbeiten anerkannte Methoden des Studiendesigns angewendet wurden.
Eine Metaanalyse untersuchte systematisch Tierversuche hinsichtlich ihres Nutzens für den Menschen in den Bereichen Schlaganfall, neurologische Erkrankungen, Knochenkrebs, Multiple Sklerose und Parkinson. John Ioannidis, Professor für Gesundheitsforschung an der Stanford Universität, folgerte aus dieser Analyse, dass es nahezu unmöglich ist, sich auf Tierversuchsdaten zu verlassen, um das Nutzen-Risiko-Verhältnis für den Menschen vorherzusagen.
Zahlreiche Studien lassen den Rückschluss zu, dass selbst Ansätze, die sich im Tierversuch als sehr vielversprechend gezeigt haben, in der klinischen Studie am Menschen versagen und keine praktische Anwendung daraus resultiert. Beispielsweise zeigt eine Auswertung, dass weniger als 10 % der als vielversprechend erscheinenden Entdeckungen aus der Grundlagenforschung innerhalb von 20 Jahren zu klinischen Anwendungen führen. So folgte aus jahrzehntelanger Schlaganfallforschung und enormen Investitionen keine einzige Therapie für den Menschen. Ähnlich bei Versuchen an einem „etablierten Mausmodell“ zur amyotrophen Lateralsklerose (Erkrankung des motorischen Nervensystems). Von über 100 Wirkstoffen, die sich im „Tiermodell“ als wirksam erwiesen haben, wurden 92 im weiteren Verlauf der Medikamentenentwicklung aussortiert. Die verbleibenden acht Medikamente wurden an Tausenden Probanden getestet, mit dem Ergebnis, dass sie nicht die erwartete therapeutische Wirkung hatten.
Die Autoren äußern, dass bei der großen Anzahl durchgeführter Tierversuche die Übereinstimmung einzelner Ergebnisse mit denen am Menschen purer Zufall ist. Sie gehen der Frage nach, ob eine bessere Qualität bei der Durchführung von Tierversuchen mehr Nutzen für den Menschen bringen würde. Mit Blick auf Studien, die diesem Anspruch genügen, zeigt sich jedoch unter anderem bei der Schlaganfallforschung, dass auch nach 10 Jahren keine klinisch relevanten Rückschlüsse gezogen werden konnten.
Ein Projekt an einer englischen Universitätsklinik zielte darauf ab, mit einer besseren Schulung der Experimentatoren die Übertragbarkeit von Tierversuchsergebnissen auf den Menschen zu verbessern. Allerdings zeigte sich, dass die Motivation der Grundlagenforscher vielmehr in der wissenschaftlichen Entdeckungslust begründet lag als in der Absicht, klinisch anwendbare Erkenntnisse zu erlangen.
Die Autoren der Studie bezeichnen die bestehende Situation als unethisch und kritisieren, dass schlechte Versuchsdesigns und methodische Ungenauigkeit bei vorklinischen Tests dazu führen, dass darauffolgende klinische Studien am Menschen versagen, Probanden potentiellen Risiken ausgesetzt werden und uns nützliche Therapien möglicherweise vorenthalten bleiben. Zudem sei es ethisch nicht zu rechtfertigen, Tieren in Versuchen, die ungenau durchgeführt werden und keine verlässlichen Ergebnisse liefern, Leid zuzufügen. Ebenso unethisch sei die Nicht-Veröffentlichung von Tierversuchsergebnissen, da dies dazu führe, dass Kenntnisse vorenthalten bleiben und folglich unnötigerweise weitere Tierversuche durchgeführt werden.
Originalveröffentlichung
Pandora Pound, Michael B. Bracken: How predictive and productive is animal research? BMJ 2014; 348:g3719
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19. Juni 2014
Eine Ende April 2014 in der Fachzeitschrift Nature Methods veröffentlichte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass männliche Experimentatoren Nagetiere derart in Stress versetzen, dass die Ergebnisse zusätzlich verfälscht werden. Durch den Stress vermeiden die Tiere Schmerzen zu zeigen. Dieser Umstand wird zwar seit langem vermutet, Experimentatoren aus Kanada gingen diesem Phänomen nun mittels weiterer Tierversuche nach.
Den Tieren wurde zum Vergleich von männlichen und weiblichen Experimentatoren eine Injektion in das Fußgelenk verabreicht und die Schmerzreaktion mittels der „Maus-Mimik-Skala“ bewertet. Männern gegenüber unterdrückten die Tiere ihren Schmerz um 40 %. Bei den Nagern wurde ein erhöhter Spiegel an Stresshormonen im Blut nachgewiesen. Ähnliche Ergebnisse zeigten sich, wenn ein anderes männliches Tier wie Meerschweinchen, Ratten, Katzen und Hunde in der Nähe war. Nur bei Anwesenheit männlicher Käfiggenossen war dieser Effekt nicht nachweisbar.
Im sogenannten „Offenen-Feld-Test“ wurde zudem das Angstverhalten analysiert – Tiere, die das offene Feld meiden und sich am Rand aufhalten, gelten als ängstlich. Auch hier verursachte die Anwesenheit von Männern verstärkt Stress für die Tiere. Weiter wurde entweder ein T-Shirt mit Männergeruch in die Nähe der Tiere gelegt oder der männliche Achselgeruch in den Käfig der Tiere eingeleitet – in beiden Fällen waren die Schmerzäußerungen wiederum unterdrückt. Beim gleichen Versuch mit weiblichem Geruch zeigte sich kein Einfluss.
Die Experimentatoren werteten zudem vergangene Tierversuchstudien aus, bei denen es um die Schmerzempfindlichkeit auf heißes Wasser ging, und fanden heraus, dass Tiere, die von Männern behandelt worden waren, ihren Schmerz stärker unterdrückten als die von Frauen behandelten.
Für diese Erkenntnis wurde also eine Reihe von Tierversuchen durchgeführt. Anstatt aus dem bereits bekannten Wissen, dass die Übertragung der Tierversuchsergebnisse auf den Menschen bereits unabhängig vom Geschlecht des Experimentators einem Lotteriespiel gleicht, die Konsequenzen zu ziehen und tierversuchsfreie Forschungswege zu gehen, empfehlen die Autoren, dass bei der Veröffentlichung der Tierversuche das Geschlecht des Experimentators angegeben werden soll. Zudem wird vorgeschlagen, die statistischen Methoden dahingehend anzupassen, dass diese Variabilität ausgeglichen wird.
Diese Studie belegt aufs Neue, welch Zufallsprodukt die Ergebnisse von Tierversuchen sind und wie krampfhaft, nur des Ergründungseifers wegen, am Tierversuch geklammert wird.
Originalpublikation
Mogil, S. et al.: Olfactory exposure to males, including men, causes stress and related analgesia in rodents. Nature Methods, 2014: 11, 629–632, DOI: 10.1038/nmeth.2935
8. August 2014
Wissenschaftliche Studie fordert mehr Ursachenforschung
Zwischen den Ergebnissen aus Tierstudien für die Erforschung und Behandlung der Alzheimer-Krankheit und der klinischen Realität klafft eine große Lücke. Zu diesem Schluss kommt eine aktuelle, in der Fachzeitschrift ALTEX erschienene Übersichtsarbeit amerikanischer Wissenschaftler. Die Experten zeigen zudem einen Weg auf, von Tierversuchen wegzukommen und sich an Forschung am Menschen zu orientieren.
Zweiundzwanzig verschiedene transgene „Mausmodelle“ wurden entwickelt, die alle lediglich Teilaspekte der Alzheimer Krankheit darstellen. Bei Mäusen werden ein oder mehrere menschliche Gene in das Erbgut eingeschleust. Bei manchen Mäusen treten dadurch Plaques im Gehirn auf, andere zeigen Störungen des Hirnstoffwechsels und wieder andere leiden unter Gedächtnisverlust. Obwohl laut den Autoren über viele Jahrzehnte hinweg so viele „Modelle“ für die Alzheimer-Krankheit entwickelt worden sind, hat dies kaum zu einem Nutzen für die Humanmedizin geführt. Grund hierfür ist die mangelhafte Darstellung der klinischen Situation des Menschen an Tieren. Zudem wird beim Menschen Alzheimer zu einem großen Teil gar nicht durch genetische Faktoren ausgelöst.
Was bei Mäusen durch Genmanipulation erreicht wird, versucht man bei Ratten durch Injektion eines Giftes hervorzurufen. Das Gift Streptozotocin zerstört die Zellen der Bauchspeicheldrüse, wodurch es zu Symptomen der Zuckerkrankheit kommt. So geschädigte Ratten werden im Allgemeinen in der Diabetes-Forschung verwendet. Da die Tiere als Nebeneffekt Gedächtnisprobleme zeigen, werden sie auch von der Alzheimer-Forschung vereinnahmt. Auch an Hunden, Kaninchen und Affen wird mit künstlichen Mitteln versucht, Demenz-Symptome auszulösen.
Kein „Tiermodell“ ist jedoch in der Lage die komplexen Symptome der menschlichen Krankheit nachzuahmen. Die Folge ist, dass viele Behandlungsmethoden bei Tieren vielversprechend waren, beim Menschen aber auf ganzer Linie versagten. So werden in einer amerikanischen Datenbank mehr als 1.200 klinische Studien mit potentiellen Therapeutika gelistet, aber nur fünf davon wurden in den USA zugelassen (über andere Länder gibt der Artikel keine Auskunft). Eines davon wird wegen schwerwiegender Nebenwirkungen kaum eingesetzt. Die zugelassenen Arzneien führen nur bei 50 % der Patienten zu einer Besserung. Die Washingtoner Experten nennen 37 Wirkstoffe, die im Tierversuch erfolgreich waren, von denen 25 im Test am Menschen versagten, entweder wegen mangelnder Wirkung oder wegen schwerer unerwünschter Wirkungen. Sieben Mittel befinden sich zurzeit in klinischen Studien.
Zahlreiche Bevölkerungsstudien belegen Zusammenhänge zwischen dem Lebensstil und der Entwicklung von Demenzerkrankungen. So wirkt sich der Verzehr von Nüssen, Kohlgemüse, dunkelgrünem Gemüse und Obst positiv aus, während Fleisch, Butter und andere Milchprodukte die Entstehung von Alzheimer begünstigen können. Förderlich bei der Prävention von Demenz ist außerdem körperliche Bewegung. Neben einer verstärkten Erforschung der Ursachen und der Risikofaktoren fordern die Autoren eine Abkehr von der tierexperimentellen Alzheimerforschung zu Gunsten beispielsweise der Untersuchung an pluripotenten Stammzellen, d.h. Zellen die sich aus Gewebeproben von erwachsenen Menschen gewinnen lassen, um die Entwicklung von Therapiemöglichkeiten voranzutreiben.
Quelle
Sarah E. Cavanaugh, John J. Pippin, Neal D. Barnard: Animal Models of Alzheimer Disease: Historical pitfalls and a path forward. ALTEX 2014: 31(3), 279-302
20. Oktober 2014
Einer im März 2014 in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Auswertung des ALS Therapy Development Instituts in Cambridge, Massachusetts, zufolge ist trotz jahrzehntelanger tierexperimenteller Erforschung der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS), einer schweren Erkrankung des motorischen Nervensystems, keine Therapie in Sicht.
Bislang sind nur ein Dutzend Wirkstoffe, die bei Mäusen die Symptome linderten, in klinischen Studien am Menschen getestet worden. Im Ergebnis versagten alle Wirkstoffe bis auf einen, und auch dieser zeigte in einer klein angelegten klinischen Studie für ALS-Patienten nur einen marginalen Nutzen. So verlängert Lithium die Überlebenszeit von SOD1-Mäusen, einer häufig verwendeten Linie, um 30 Tage. Bei drei weiteren klinischen Studien mit Hunderten Patienten und Kosten von 100 Millionen Dollar kam heraus, dass Lithium keinerlei therapeutischen Effekt hatte.
Symptome der ALS werden beispielsweise durch Genmanipulation an Tieren erzeugt, was jedoch die menschliche Erkrankung in ihrer Komplexität nicht abbilden kann. So stirbt die in der ALS-Forschung häufig verwendete Maus-Mutante TDP 43 an Darmverschluss, weil ihr Darm gelähmt wird. Menschliche Patienten dagegen sterben an Muskelschwund.
Um rückwirkend den möglichen Nutzen von ALS-Medikamenten zu überprüfen, wurden erneut Tierversuche an Mäusen durchgeführt. Dabei versagten alle der 100 in Tierversuchen als potentiell wirksam eingestuften Medikamenten am Menschen. Auch bei den acht Wirkstoffen, die in klinischen Studien an tausenden Patienten getestet wurden, bestätigte sich der am Tier gefundene positive Effekt nicht.
Der Autor der Studie kommt zu dem Schluss, dass auch in der ALS-Forschung Tierversuche oft von schlechter Qualität sind und viel Geld für irrelevante Forschung ausgegeben wird. Dennoch mussten für diese, nicht neue, Erkenntnis Tiere für Versuche herhalten.
Quelle und Originalpublikation
S. Perrin: Make mouse studies work. Nature 2014: 507; 423-425 (PDF) >>
25. Februar 2015
Die Autoren einer bereits in 2012 veröffentlichten Studie stellen Tierversuche im Zeitalter der „personalisierten“ Medizin kritisch in Frage und fordern, dass eine auf den Menschen bezogene Forschung im Vordergrund stehen sollte, um Erkenntnisse über menschliche Krankheiten sowie über Risiken bei der Einnahme von Arzneimitteln zu gewinnen. In der personalisierten Medizin soll eine für den Patienten maßgeschneiderte Therapie erfolgen, welche über das spezielle Krankheitsbild hinaus vor allem das individuelle menschliche Erbmaterial (Genom) und dessen Einfluss auf das Wirken von Medikamenten berücksichtigt. Das Verwenden von Tieren als „Modelle“ für die Grundlagenerforschung menschlicher Krankheiten würde die grundlegenden Prinzipien der personalisierten Medizin ignorieren. Das ist die zentrale Aussage der vorliegenden Studie.
Die Wissenschaft sei längst in Kenntnis darüber, dass sogar eineiige Zwillinge signifikante genetische Unterschiede aufweisen. Sogenannte regulatorische Gene und weitere Faktoren sind dafür verantwortlich, dass exakt gleiche Genome ein völlig unterschiedliches Erscheinungsbild der Merkmale eines Organismus (Phänotyp) aufweisen können. Die Autoren folgern daher, dass die Grundsätze für die personalisierte Medizin auf die Grundlagenforschung wie auch die Medikamentenprüfung übertragen werden müssen, um eine für den Menschen relevante Wissenschaft zu betreiben.
Zur Vorhersagekraft medizinischer Forschung
Aussagekräftige wissenschaftliche Analysen sollten eine hohe Wahrscheinlichkeit erreichen, eine möglichst korrekte Antwort im Hinblick auf die jeweilige Fragestellung zu geben. Eine eher zufällige Übereinstimmung sei dabei kein Synonym für die Prognosefähigkeit des durchgeführten Versuchs und somit wenig hilfreich.
Zu Unterschieden innerhalb einer Art
Die personalisierte Medizin basiere auf enormen Unterschieden in Krankheitsverläufen und Arzneimittelantworten zwischen menschlichen Individuen, trotz genetischer Ähnlichkeit. Über 90% der Arzneimittel wirkten nur bei 30-50% der Menschen. Die meisten Wirkstoffe zeigten zudem eine Effektivitätsrate von nur 50% oder weniger. Aufgrund genetischer Vielfältigkeit (Polymorphismen) sei es auch denkbar, dass beispielsweise ein Impfstoff nicht alle Individuen gleichermaßen schützen kann. Es wird angenommen, dass 5-20% der gegen Hepatitis B geimpften Menschen und 2-10% derjenigen, die gegen Masern geimpft wurden, bei einem entsprechenden Erregerkontakt nicht geschützt sind. Für die Zukunft sei es daher denkbar, dass Kinder personalisierte Impfstoffe erhalten werden.
Zu komplexen Systemen
Menschen und Tiere sind Beispiele für komplexe biologische Systeme, was im Umkehrschluss bedeutet, dass es als problematisch anzusehen ist, wenn Ergebnisse aus Medikamentenprüfungen und Krankheitsverläufen z.B. aus Ratten auf andere Systeme wie den Menschen übertragen werden. In jedem komplexen System können kleinste Abweichungen in den Ausgangsbedingungen drastische Unterschiede im Endergebnis erzeugen.
Zu Unterschieden zwischen den Arten
Tiere werden häufig „verwendet“, um die menschliche Antwort auf Medikamente und Krankheiten vorherzusagen. Empirisch gesehen sei das Übertragen von Forschungsergebnissen zwischen den Arten problematisch und die Prognosekraft würde nur eine unzureichende Wahrscheinlichkeit aufweisen. Alle Tiere seien Beispiele komplexer Systeme und wenn sogar die menschliche Population unterschiedliche Reaktionen zwischen den Individuen zeigt, sei es nicht verwunderlich, dass „Tiermodelle“ in ihrer Vorhersage für den Menschen weitgehend fehlschlagen.
Zur Evolution
Unterschiede in den Genen und vor allem der Genregulation erklärten die empirisch beobachtete geringe Wahrscheinlichkeit, dass zwei verschiedene Arten in gleicher Weise auf eine Krankheit oder Wirkstoffe reagieren.
Zur Perspektive für die Zukunft
Die Autoren vertreten die Meinung, dass eine seriöse Wissenschaft zugunsten des Menschen zu einem sofortigen Ende von Tierversuchen führen müsse. Das NIH (nationales Gesundheitsinstitut der USA) wie auch andere Fördermittelorganisationen sollten in Erwägung ziehen, Forschungsgelder für Tierversuche vielmehr für eine auf den Menschen bezogene Forschung zu bewilligen.
Die Erforschung von Krankheiten direkt am Menschen oder menschlichen Geweben, die Entwicklung von unterstützender Software und generell das Verfolgen von grundsätzlichen Prinzipien der personalisierten Medizin seien die Wegweiser für die Zukunft.
Quelle
Ray Greek, Andre Menache and Mark J Rice (2012). Animal models in an age of personalized medicine. Personalized Medicine 2012: 9 (1), 47-64
https://www.futuremedicine.com/doi/pdf/10.2217/pme.11.89
29. Juli 2015
Die Autoren eines Diskussionsbeitrags zum Thema „Welche Mittel verursachen Krebs?“ des British Medical Journals argumentieren sehr deutlich gegen Tierversuche in der Krebsmedizin.
Obwohl bereits Billionen Dollar in den Kampf gegen Krebs investiert wurden, sei Krebs noch immer die zweithäufigste Todesursache. Vierzig Prozent der Menschen würden eines Tages an Krebs erkranken und die Hälfte davon sterbe auch daran. Das sei eine Größenordnung, bei der man sich offen fragen müsse, ob die bisherigen Strategien und daraus resultierende wie praktizierte Methoden effizient genug waren. Millionen Tiere wurden zu diesem Zweck im Labor geopfert und Tausende Chemikalien wie auch potenzielle Arzneimittel wurden als krebserregend (karzinogen) beschrieben. Aber sind die Ergebnisse aus Tierversuchen wirklich aussagekräftig für die Krebsmedizin des Menschen?
Um dieser Fragestellung nachzugehen haben die Autoren dieses Beitrags die Datenbank IRIS für toxische Chemikalien genauer betrachtet. IRIS steht für „Integrated Risk Information System“ und wird geführt von der amerikanischen Überwachungsbehörde EPA (Environmental Protection Agency, Umweltbehörde).
Für die meisten Chemikalien fehle es an Daten für die Wirkung am Menschen und es gäbe lediglich Ergebnisse zum krebserregenden Potenzial aus Tierversuchen. Hierbei seien aber laut EPA 58% der Datensätze unzureichend, um eine Bewertung für die Wirkung am Menschen vorzunehmen. Aber waren die übrigen 42% wirklich geeignet, um gute Vorhersagen zu treffen? Dazu haben die Autoren die Klassifikationen zur krebserregenden Eigenschaft (Karzinogenität) von Chemikalien der EPA mit denen der weltweit führenden IARC (World Health Organization`s International Agency for Research on Cancer, Internationale Agentur für Krebsforschung) verglichen. Die Ergebnisse waren beunruhigend. Im Fall von 128 Chemikalien waren die Bewertungen bzgl. der Karzinogenität beim Menschen lediglich für 17 Substanzen übereinstimmend. Die übrigen 111 Chemikalien wurden von der EPA weit krebserregender eingestuft als von der IARC. Die EPA scheint dazu zu tendieren, das krebserregende Risiko von Substanzen über zu bewerten. Dies sei vermutlich begründet in der Tatsache, dass Humandaten fehlen und zudem in Amerika sehr hohe Schadensersatzansprüche geltend gemacht werden, wenn es in der Medizin zu Unglücken kommt. Diesbezüglich hätten Tierversuche eine lange Tradition und nahezu jede für den Menschen krebserregende Substanz erzeuge auch in Tieren Tumore, solange nur ausreichend verschiedene Tierarten getestet werden. Doch wenn man ausreichend viele Tierarten testet, würde eine Karzinogenität für eine Substanz auch dann gefunden, wenn gar kein Risiko für den Menschen besteht. Von 20 für den Menschen nicht krebserregenden Substanzen zeigten 19 in Tierversuchen krebserregende Wirkung.
Das Problem mit Tierversuchen zur Karzinogenität von Chemikalien sei nicht die mangelnde Empfindlichkeit für humane Karzinogene, sondern die fehlende Spezifität. Ein positives Ergebnis im Tierversuch hätte demnach wenig Vorhersagekraft für die Wirkung am Menschen. Ein Grund dafür sei beispielsweise die unphysiologische Durchführung von chronischen Hoch-Dosis- Tests, welche Faktoren wie z.B. die natürliche Geweberegeneration völlig außer Acht ließe.
Weiter seien der hohe Zeit- und Kostenfaktor (kostspielige und langwierige Tierversuche) wie natürlich das große Leiden der Tiere in diesem Bereich ein Nachteil. Moderne Alternativen würden bereits existierten und es sei unerklärlich, wie langsam die Zulassungsbehörden bei der Akzeptanz neuer Methoden agieren. Da jedes Jahr ca. 400 neue Medikamente eingeführt werden, sei dringend ein radikales Umdenken im Vertrauen auf weiteres Testen von Substanzen an Tieren nötig! Die Entwicklung und Anwendung schneller und zuverlässiger tierversuchsfreier Methoden würde das Krebsproblem in der Gesellschaft verringern, so die Autoren.
Quelle
Andrew Knight, Jarrod Bailey und Jonathan Balcombe. Which drugs cause cancer? BMJ USA 2005 (5), 479
https://www.bmj.com/content/331/7521/E389.full.pdf+html
29. Juli 2015
Der Autor einer in der renommierten Fachzeitschrift „Immunity“ publizierten Studie fordert eingehend eine Fokussierung der immunologischen Wissenschaft auf den Menschen und sich zu distanzieren von der bisher gängigen Forschungspraxis mit Inzuchtstämmen der Maus. Denn kaum eine Erkenntnis aus der immunologischen Grundlagenforschung führe zu einer klinischen Standardanwendung.
Obwohl nach Ansicht des Autors die Mausforschung durchaus viele Erkenntnisse über grundlegende Mechanismen des Immunsystems von Säugetieren geliefert hat, sei die Übertragung in die klinische Anwendungen für den Menschen bisher wenig beeindruckend.
Die Immunologie ist ein über die letzten 50 Jahre extrem schnell gewachsener Zweig der Biowissenschaften. In dieser Zeit wurden die Strukturen von Antikörpern und Immunzellrezeptoren aufgedeckt. Man fand Systeme der angeborenen Immunität, verschiedene Immunzellen für spezifische Antworten auf eindringende Erreger und Dutzende von Botenstoffen, durch welche die Kommunikation zwischen den Zellen des Immunsystems möglich ist. Weiter wurden viele Impfstoffe entwickelt (viele davon aber bereits bevor die Maus in der Immunologie zum Standard wurde) und es entstand eine neue Form der Pharmakologie mit spezifischen Antikörpern und Immunmodulatoren als Wirkstoffe gegen Krankheiten (sogenannte Biopharmazeutika).
Dennoch gäbe es laut Verfasser dieser Studie ein ernsthaftes Problem, was darin besteht, dass bisher kaum eine Errungenschaft immunologischer Grundlagenforschung den Weg zu einer klinischen Standardanwendung geschafft hat.
Eine zentrale Aussage dieser Studie ist, dass Wissenschaftler verlässliche Messparameter für die immunologische Gesundheit des Menschen finden und geeignete Messsysteme etablieren müssten, um humane Krankheiten besser zu verstehen. Dies würde natürlich auch für Mäuse gelten, sofern man sich mit deren Erkrankungen beschäftigen möchte.
Blindes Vertrauen in das Mausmodell
Nach Aussage des Verfassers hat die Mausforschung für grundlegende Mechanismen des Immunsystems der Säugetiere viele Erkenntnisse gebracht, was dazu geführt hat, dass viele Wissenschaftler starr daran festhalten, um jeder erdenklichen Fragestellung nachzugehen. Es gibt mittlerweile eine große Fülle an Möglichkeiten für die Mausforschung, so dass Experimentatoren keinen wirklichen Grund sehen, um mit einer anderen Spezies, einschließlich Menschen, zu arbeiten. Zudem sei das Arbeiten mit Mäusen zum Standard geworden, um die Ergebnisse in angesehenen Fachzeitschriften veröffentlichen zu können, was wiederum für den beruflichen Erfolg eines Wissenschaftlers unerlässlich ist. Klinische Immunologen hätten aus diesem Grunde stets einen „Vorrat“ an Mäusen, um ihre Veröffentlichungen und das Einwerben von Forschungsmitteln vorantreiben zu können. Und das, obwohl es bereits zahlreiche Studien darüber gibt, dass die sogenannten „Mausmodelle“ zur Erforschung von Krankheiten und Wirkstoffkandidaten nicht auf den Menschen übertragbar sind. Das betrifft Modelle für Autoimmunkrankheiten, Krebsimmuntherapien und u.a. auch für neurologische Erkrankungen. In diesem Zusammenhang bezeichnet der Autor die Maus als „lausiges Modell“ für die klinische Situation des Menschen.
Warum aber ist die Maus so erfolglos als ein klinisches „Modell“?
Der Autor der vorliegenden Studie greift 3 wichtige Punkte heraus:
- Das Verwenden von Maus-Inzuchtstämmen habe eine Fülle von genetischen Defekten geschaffen, welche die Regulation von Immunantworten verändern.
- Viele „Modelle“ seien sehr künstlich. Sie haben mit der natürlichen Situation im Menschen oft gar nichts gemeinsam.
- Die große evolutionäre Distanz zwischen Maus und Mensch sei ein wichtiger Hinweis für das Scheitern des „Mausmodells“, wie auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Immunsystem einer kleinen, kurzlebigen Maus sich grundlegend von dem eines im Vergleich großen Individuums wie des langlebigen Menschen unterscheidet. Die Reproduktionsrate der Maus ist zudem deutlich größer als die des Menschen.
Es sei schwer zu sagen, welcher Punkt nun entscheidend ist, aber die Unterschiede zwischen Maus und Mensch seien bisher nicht systematisch erforscht worden. Wir befänden uns in einem Zustand der „Verleugnung“. Es wurde so intensiv in das „Mausmodell“ investiert, dass es undenkbar erscheint, davon Abstand zu nehmen. Stattdessen wäre ein gesteigertes Interesse an „humanisierten“ Mäusen zu verzeichnen. Tiere mit einem Defekt im Immunsystem bekommen menschliche Stammzellen oder weiße Blutzellen und sollen so die menschliche Situation widerspiegeln. Der Autor steht diesem „Verfahren“ sehr kritisch gegenüber und gibt zu bedenken, dass das Immunsystem einer „humanisierten“ Maus nicht mit dem eines Menschen vergleichbar ist.
Das menschliche „Modell“
Die Aufgabe der Wissenschaft bestünde nun darin, sich verstärkt auf die humane Immunologie zu konzentrieren und somit Fortschritte für die klinische Anwendung zu erbringen. Der Autor nennt zum Vergleich das Forschungsfeld der Humangenetik, welches in den 70er Jahren lediglich ein Schattendasein führte im Vergleich zur experimentellen Genetik an Fruchtfliegen und Würmern. Doch im Zuge der molekularbiologischen Entwicklungen wurde das „Human Genome Project“ ins Leben gerufen, was dazu führte, dass das Wissen über das menschliche Erbgut (Genom) rasant zunahm. Es eröffneten sich ganz neue Möglichkeiten für die Erforschung menschlicher Krankheiten.
Was muss also getan werden?
Der Autor ist der Auffassung, dass zunächst das Bewusstsein der Wissenschaftler dahingehend zu lenken ist, dass die Mausforschung keine Antworten für alle Fragestellungen in der Immunologie erbringen wird. Weiter würde es nicht ausreichen, nur die Fördermittel für die humane Forschung zu erhöhen, denn die Möglichkeiten in der Mausforschung seien vielfältiger und weit weniger einschränkend als die Arbeit mit Menschen bzw. menschlichen Proben.
Der Autor dieser Studie schlägt vor, sich die Stärken der Forschung am Menschen bewusst zu machen und in den Vordergrund zu rücken. Diese wären:
- Billionen Menschen prüften sich selbst jeden Tag auf ihren Gesundheitszustand und viele von ihnen geben Blutproben bei Medizinern ab.
- Tausende von gesunden Freiwilligen könnten herangezogen werden, um parallel den „Normalzustand“ des Immunsystems zu untersuchen.
- Millionen Menschen würden jedes Jahr geimpft, was als Quelle für die Untersuchung eines normalen Immunsystems genutzt werden könnte, welches durch äußere Einflüsse gestört wurde.
- Eine Vielzahl spezifischer immunologischer Erkrankungen sei aufgetreten, darunter z.B. ca. 90 Autoimmunerkrankungen und mehr als 120 Immundefekte. Tausende von Infektionskrankheiten wirkten auf den Menschen ein, was Grund genug sei, dass man das menschliche Immunsystem besser verstehen müsse.
Daraus ergäbe sich, dass dringend breit angelegte Messsysteme für die humane Immunologie etabliert werden müssen, welche einheitliche Hochdurchsatzanalysen von klinischen Proben wie Blutproben ermöglichen. Das würde bedeuten, dass eine große Anzahl an Tests entwickelt werden muss, um jeden Immunzelltyp zu untersuchen und festgelegte Parameter beurteilen zu können. Dabei sei es sehr wichtig, zunächst einmal den „gesunden“ Immunstatus zu definieren, um diesen dann mit dem von kranken Menschen vergleichen zu können.
Die Vielfalt humaner Genetik wie auch die der Immunantworten könnte eine Quelle für neue Erkenntnisse der menschlichen Immunfunktionen unter dem ständigen Einfluss sich ändernder Umweltbedingungen sein. Die Entwicklung einer Infrastruktur der zur Datenanalyse benötigten Bioinformatik und das Erstellen von Meta-Analysen der Fachliteratur sei zudem entscheidend, um die Ergebnisse für die Öffentlichkeit nutzbar zu machen. Erste Ansätze seien vorhanden (z.B „Human Immune Monitoring Core“ an der Universität von Standford), müssten aber auf nationaler und internationaler Ebene weiter ausgebaut werden. Alle Anstrengungen in diesem Bereich würden ebenfalls der „personalisierten“ Medizin zu Gute kommen, welche für den Patienten maßgeschneiderte Therapien ermöglichen soll.
Quelle
Davis Mark M.:. A Prescription for Human Immunology. Immunity 2008 (29): 835-838
http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC2905652/pdf/nihms187583.pdf
4. August 2015
Im Rahmen eines Workshops gingen Wissenschaftler aus Großbritannien der Frage nach, ob Versuche mit freiwilligen Probanden das Potenzial haben, die bisher üblichen Hirnversuche vor allem an Mäusen, Ratten und Affen teilweise oder vollständig zu verdrängen. Dazu beleuchten sie zahlreiche Studien zur Hirnforschung, insbesondere mit bildgebenden Verfahren wie z. B. MRT, EEG, TMS oder PET. Dabei erläutern die Autoren, welchen Fragestellungen in der Hirnforschung an Tieren nachgegangen wird und welche Antworten diese liefern sowie die Vorteile der ethischen Forschungsmöglichkeiten am Menschen.
Hirn und Nervensystem werden u.a. erforscht, indem bestimmte Hirnareale von Tieren mittels Injektion eines Giftstoffes zerstört werden. Man führt vorher und nachher verschiedene Tests durch, um zu ermitteln, welche Funktionen diese Hirnareale innehaben bzw. -hatten. Dabei wird, so die Autoren, die Aussagekraft begrenzt durch anatomische und funktionelle Unterschiede zwischen Tier und Mensch, wofür einige Beispiele gegeben werden.
So wurde durch Versuche mit Affen beispielsweise eine spezielle Hirnregion identifiziert, die für das Arbeitsgedächtnis (d. h. die vorübergehende Speicherung von Informationen) zuständig ist. Durch Studien mit Menschen konnte gezeigt werden, dass ein solches Areal zwar auch im menschlichen Hirn existiert, jedoch liegt sie hier weiter oben und weiter hinten als bei Affen. Da man sich bis dahin auf die Ergebnisse der Affenstudien stützte, wurde das Hirnareal in früheren Studien am menschlichen Hirn nicht entdeckt.
Bei Studien am bzw. mit Menschen ergeben sich ethische Fragen und Bedenken, die von den meisten Wissenschaftlern bei Tierversuchen als nicht problematisch angesehen werden. Jedoch wird, im Gegensatz zu den Versuchstieren, kein Mensch künstlich krank gemacht, einer Gefahr ausgesetzt oder zu einem Experiment gezwungen. Bildgebende Verfahren wie Magnet- oder Elektroenzephalographie (MEG bzw. EEG) sind nicht-invasiv, werden teilweise schon seit Jahrzehnten angewandt und (Langzeit-)nebenwirkungen sind bisher nicht beobachtet worden.
Transkranielle Magnetstimulation (TMS)
Ein möglicher Ansatz, um künftige Studien zum Thema Nervensystem zu verbessern, ist die Transkranielle Magnetstimulation (TMS). Dabei werden durch ein Magnetfeld bestimmte Hirnbereiche vorübergehend aktiviert oder gehemmt. Die so ausgelösten „Störungen“ sind extrem kurz und nur vorübergehend, während die Zerstörung der Hirnbereiche am Tier irreversibel ist. Außerdem kann mit der TMS auch der zeitliche Verlauf einer Funktionsstörung beobachtet werden. In Humanstudien konnten mit Hilfe der TMS die Wege von den Arealen in der Hirnrinde zum Kehlkopf bzw. zur Speiseröhre aufgezeigt werden. Dabei zeigte sich, dass die Schluck-Signalwege der einzelnen Hirnhälften interagieren und dass deren Erregbarkeit sowohl im Hirnstamm als auch in der Hirnrinde durch sensorische Reize reguliert wird. Solche Erkenntnisse sind zum Beispiel von Bedeutung für Demenz- oder Schlaganfallpatienten, die häufig unter Schluckstörungen leiden. Eine weitere Studie mit gesunden Probanden ergab, dass die Stimulation des Rachen die Erregbarkeitsschwelle des „Schluckareals“ im Hirn herabsetzt und somit die Heilung von Schluckstörungen nach einem Schlaganfall unterstützen könnte.
Positronen-Emissionstomographie (PET)
Weitere Möglichkeiten sind die Erhebung von Daten von Patienten mit bereits bestehenden Funktionsstörungen in bestimmten Hirnarealen (z. B. durch einen Schlaganfall oder ein Trauma) oder auch sog. PET-Untersuchungen (Positronen-Emissions-Tomographie) zur Untersuchung der Verteilung von Botenstoffen während der Ausübung bestimmter Tätigkeiten.
Gewebeproben
Auch an Hirngewebe, welches bei Obduktionen oder Operationen entnommen wird, kann zur Aufklärung beitragen. Bei Operationen werden oft große Gewebestücke entfernt (beispielsweise bei Tumor-Operationen); davon wird jedoch nur ein kleiner Teil benötigt, um z. B. in der Pathologie eine Diagnose zu stellen. Der Rest bleibt ungenutzt. Doch würde sich das Material noch für die Forschung eignen, z. B. um Tumorzellen zu züchten und daran neue Medikamente zu testen. Auch bei Obduktionen, die wichtig sind, um den Tod eines Menschen adäquat aufzuklären, können kleine Gewebeproben für weitere Untersuchungen entnommen werden, eine vorherige Einwilligung des Patienten bzw. der Angehörigen vorausgesetzt. 1998 konnten Forscher zum Beispiel erstmals Nervenzellverbindungen an Hirngewebe verfolgen, und das bis zu acht Stunden nach dem Tod des Patienten. Mit den derzeit existierenden bildgebenden Verfahren ist es eher unwahrscheinlich, einzelne Nervenzellen zu erreichen bzw. zu beurteilen, doch dies ist wahrscheinlich auch nicht notwendig, denn viel wichtiger ist das Zusammenspiel mehrerer Nervenzellen und deren räumliche Anordnung. Dies kann z. B. an isoliertem Hirngewebe studiert werden. Die Verfügbarkeit von bei Operationen oder Obduktionen entnommenem Hirngewebe ist derzeit noch begrenzt, doch einige Patienten geben ihr Einverständnis zur Nutzung des Hirngewebes für die Forschung, zum Beispiel, um bildgebende Verfahren zu verbessern oder zu validieren.
Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie (SPECT)
Bildgebende Verfahren erlauben bei Patienten mit Hirntumoren, Multipler Sklerose, Schlaganfall, Demenz usw. die Untersuchung des zeitlichen Verlaufs, also Entstehen und Fortschreiten der Erkrankung und Ansprechen auf die Therapie. Hier stoßen die traditionellen „Tiermodelle“ an ihre Grenzen. Am Patienten können aber speziell auf ihn zugeschnittene und nützliche Untersuchungen durchgeführt werden. Jeder Patient reagiert anders auf eine Therapie oder eine Erkrankung, während „Tiermodelle“ standardisiert sind und die reale Situation eines kranken Menschen nie vollständig widerspiegeln können. Mit Hilfe der sog. SPECT-Untersuchung (Einzelphotonen-Emissionscomputertomographie) kann die Verteilung und Funktion verschiedener Rezeptoren im Hirn untersucht werden. So erhalten beispielsweise Patienten, die unter einer Depression leiden, eine Substanz, die an Dopaminrezeptoren im Hirn bindet. Bisher ging man davon aus, dass bei Depression die Anzahl dieser Rezeptoren in den Stammganglien vermindert ist. Eine Studie mit Patienten aber konnte das Gegenteil zeigen. Aus solchen Erkenntnissen können neue Therapieansätze für eine Erkrankung entstehen.
Falsches Medikamentenprofil durch Tierversuche
Studien mit Freiwilligen oder Patienten bei der Entwicklung neuer Medikamente können Zeit und Kosten sparen. Mehr Investition in die Entwicklung bildgebender Verfahren ist hier von entscheidender Bedeutung. Denn durch Tierversuche entsteht meist ein falsches Medikamentenprofil. Medikamente, die in Tierversuchen als wirksam und sicher eingestuft werden, versagen oft am Patienten oder führen sogar zu unvorhergesehenen Nebenwirkungen. Ein sog. Enkephalinase-Hemmer z. B. wurde durch Versuche mit Nagern als besonders effektives Schmerzmittel eingestuft. Beim Menschen zeigte er jedoch keine schmerzlindernden Wirkungen und zwar aufgrund der zu schwachen Aufnahme ins Hirn. Dies wurde allerdings erst entdeckt nachdem bereits ca. 28 Millionen Euro investiert worden waren. Eine PET-Studie mit Freiwilligen hätte schon frühzeitig gezeigt, ob das Medikament die Blut-Hirn-Schranke passieren kann oder nicht. Weitere Studien hätten die schmerzlindernde Wirkung überprüfen können. Dies hätte Zeit und somit auch Kosten gespart, abgesehen von unzähligen Tierleben. Ein weiterer Fall ist der Appetitzügler Dexfenfluramin. Im Tierversuch wurden bei hohen Medikamentenspiegeln irreversible neurochemische Veränderungen beobachtet. Eine Studie mit der sog. Magnetresonanzspektroskopie (MRS) konnte zeigen, dass diese Spiegel im menschlichen Hirn nicht erreicht werden und somit keine Gefahr besteht. Dies zeigt, dass auch vielversprechende Medikamente keine Marktzulassung erhalten könnten, weil durch ungeeignete Forschungsmethoden falsche Ergebnisse erzielt werden.
Patienten- bzw. Freiwilligenstudien
Patienten- bzw. Freiwilligenstudien erbrachten neue Erkenntnisse zu Netzwerken und Arealen im Hirn und deren Bedeutung. Um die Funktion einzelner Hirnbereiche zu erforschen ist es notwendig, den Probanden bestimmte Aufgaben ausführen zu lassen. Menschen lassen sich leichter „anlernen“ als Tiere, während es Monate dauern kann, beispielsweise einen Affen zu trainieren. Zudem bieten Menschen den bedeutsamen Vorteil der beidseitigen Kommunikation zwischen Untersucher und Untersuchtem. Menschen können gefragt werden, ob, wo und wie stark sie derzeit Schmerzen empfinden; bei Tieren kann dies nur gemutmaßt werden. Bis zur Einführung bildgebender Verfahren in die Forschung am und mit Menschen war es völlig unklar, ob und wenn ja, welche Bereiche der Hirnrinde überhaupt an der Wahrnehmung von Schmerzen beteiligt sind. PET-Studien am Menschen konnten diese Bereiche identifizieren. Während Tierversuche das Wissen um die Schmerzwahrnehmung begrenzt haben, konnte mittels Studien am Menschen dieses Wissen erweitert werden. Weiterhin können mit Patienten und/oder Freiwilligen Langzeitstudien über viele Jahre durchgeführt werden; bei Tierversuchen ist dies aus finanziellen, ethischen und auch biologischen Gründen (geringere Lebenserwartung der meisten Tiere) nicht möglich.
Investition in Humanstudien
Eines der größten Hindernisse der Humanstudien sind die Forscher selbst, denen es schwer fällt, neue wissenschaftliche Methoden zu akzeptieren und alte Muster und Ansichten abzulegen. Oftmals werden Erkenntnisse aus Studien am Menschen im Tierversuch überprüft, einfach weil dies schon immer so war. Doch im Zuge des technologischen Fortschrittes erscheinen Tierversuche immer weniger angemessen und geeignet. Dabei gibt es große internationale Unterschiede: während in Frankreich Freiwilligenstudien stark begrenzt sind und in Deutschland weiterhin Affenversuche dominieren, hat in Großbritannien mittlerweile ein Paradigmenwechsel stattgefunden und Erkenntnisse aus bildgebenden Verfahren werden, insbesondere von jungen Wissenschaftlern, anerkannt.
Zwar erscheinen die Investitionen, die notwendig sind, um bildgebende Verfahren weiterzuentwickeln und in der Forschung einzusetzen, zunächst sehr hoch. Doch wenn eine solche Technik erst einmal etabliert ist, ist es möglich, verschiedenste Studien am Menschen relativ kostengünstig durchzuführen. Bei den Abwägungen der Investoren sollten außerdem alle Kosten, die Tierversuche verursachen, berücksichtigt werden, nicht nur die bloße Anschaffung eines „Versuchstiers“. Bedacht werden sollten auch die Ausgaben für Unterbringung und Versorgung der Tiere sowie die Kosten für Tierpfleger, Räumlichkeiten, Sicherheitsmaßnahmen und Infrastruktur. Es erscheint vielen Geldgebern als Risiko in neue Techniken zu investieren, möglicherweise weil die Einschränkungen der Humanstudien überbewertet und das Potenzial neuer Techniken unterschätzt werden. Auch eine Verbesserung der Karriereaussichten für Wissenschaftler, die an klinischer Forschung interessiert sind, wäre wichtig, um Humanstudien voranzutreiben. Denn so lang sich niemand um die Weiterentwicklung und Verbesserung neuer Techniken bemüht, kann auch kein Fortschritt stattfinden und neue Erkenntnisse werden noch lange auf sich warten lassen.
Quelle
Langley G., Harding G., Hawkins P. et al.: Volunteer Studies Replacing Animal Experiments in Brain Research; ATLA 2000 (28), 315-331
4. August 2015
Am Beispiel von Aspirin zeigt der Autor einer in der im Wissenschaftsjournal ATLA veröffentlichten Studie, dass Tierversuche kontraproduktiv sind, da sie Wirkungen am Menschen falsch voraussagen.Den 110. Jahrestag der Markteinführung von Aspirin nutzte der Toxikologe Thomas Hartung, um Kritik an den Methoden der Sicherheitsbeurteilung von Arzneimitteln zu üben, denn in keinem anderen Fachgebiet der Biowissenschaften werden noch heute dieselben Experimente durchgeführt wie vor 40 bis 60 Jahren.
Wären Tierversuche 1899 bereits Standardmethode zur Risikobewertung von neuen Arzneimitteln gewesen, ist es nach Aussage des Autors sehr unwahrscheinlich, dass es Aspirin überhaupt bis zu den klinischen Studien (d. h. Studien mit freiwilligen, gesunden Probanden bzw. Patienten) geschafft hätte. Denn das Risikoprofil von Aspirin klingt nicht gerade vielversprechend:
- gesundheitsschädlich beim Verschlucken
- reizt die Augen, Atmungsorgane und Haut
- nicht krebserregend, aber -fördernd mit unklarer erbgutschädigender Wirkung
- embryonale Fehlbildungen bei Katze, Hund, Affe, Maus, Kaninchen und Ratte
- Trotz angeblicher erbgutschädigender Wirkung und Nachweis von Missbildungen bei verschiedenen Tierarten wird Aspirin heutzutage u.a. Schwangeren verabreicht, die unter Präeklampsie leiden (Bluthochdruckerkrankung in der Schwangerschaft mit vermehrter Proteinausscheidung). Und das zu recht, denn eine Metaanalyse (statistische Analyse verschiedener vorangegangener Studien) konnte zeigen, dass bei Menschen kein erhöhtes Risiko für Missbildungen besteht.
Ähnliche Diskrepanzen bestehen bei vielen gut bekannten und viel verschriebenen Arzneimitteln; Paracetamol beispielsweise ist krebserregend bei Nagern; beim Menschen konnte diese Wirkung nicht festgestellt werden.
Dies führt den Autor zu drei wesentlichen Kritikpunkten des 3R-Prinzips. Die drei R stehen für „Replace, Reduce, Refine“ und sollen einen Ansatz darstellen, um Tierversuche in der Forschung zu ersetzen, zu reduzieren bzw. das Leid der Tiere zu verringern. Hartung fügt noch ein viertes R hinzu: Realismus. Und er wagt den Realitätscheck der heutzutage gängigen Substanz-Testung, die für die Marktzulassung Tierversuche als „Sicherheitsprüfung“ vorschreibt, ohne dass Tierversuche jemals auf ihre Aussagekraft hin überprüft worden sind.
Erster Realitätscheck: REACH: Die EU Chemikalienverordnung REACH (Registration, Evaluation, Authorisation and Restriction of Chemicals) hat zum Ziel, nur noch Chemikalien in Umlauf zu bringen, die zuvor registriert und geprüft worden sind. Die meisten Daten werden dazu mit Hilfe von Tierversuchen gewonnen. Initial wurden ca. 180.000 Vorregistrierungen von 27.000 Firmen für 30.000 Substanzen erwartet. Am Ende der Vorregistrierungsphase im Dezember 2008 lagen die Zahlen wesentlich höher (2,7 Mio. Vorregistrierungen von 65.000 Firmen für 144.000 Substanzen). Das REACH-System ist mit derzeitigen Toxikologie-Methoden nicht zu bewältigen, so der Autor. Eine Erweiterung des Programms sei demnach unvermeidlich und es gäbe keine Möglichkeit, dies ohne Alternativmethoden zu erreichen.
Zweiter Realitätscheck: Die Eignung der derzeitigen Toxikologie Tierversuche sind auch im 21. Jahrhundert noch „Goldstandard“ bei der Risikobeurteilung von Arzneimitteln, und das, obwohl die Vorhersagekraft von Tierversuchen nie validiert worden ist. D. h. bisher wurde nicht überprüft oder gar nachgewiesen, ob Tierversuche überhaupt geeignet sind, um Reaktionen des menschlichen Organismus (z. B. Reaktionen auf Arzneimittel) ausreichend sicher vorherzusagen. Dennoch werden neue (tierversuchsfreie) Methoden an Tierversuchen gemessen. Ca. 70% der entwickelten tierversuchsfreien Tests scheitern an der Validierung. Hartung schlägt daher eine evidenzbasierte Toxikologie vor, ähnlich der evidenzbasierten Medizin, d. h., eine Wissenschaft, die sich auf empirische Belege, auf systematische und beweisbare Datenerhebung stützt. Die derzeitigen Mittel der Toxikologie sind nicht für die anstehenden Herausforderungen geeignet, folgert der Autor.
Dritter Realitätscheck: Die Eignung der derzeitigen „alternativen“ Ansätze (3R) und deren Integration in die Toxikologie. Das Einführen „alternativer“ Testmethoden sollte nach Aussage des Autors genutzt werden, um Tierversuche und Tierleid zu vermindern. Solange jedoch weiterhin an der Denkweise festgehalten wird, einen Tierversuch direkt durch eine andere Methode zu ersetzen, können artspezifische Unterschiede und damit die begrenzte Aussagekraft nicht überwunden werden. Daher sei es nötig, über neue Referenzen (Vergleichs-/Bezugssysteme) für die Validierung nachzudenken, statt an der Toxikologie der Vergangenheit zu hängen.
Quelle:
Hartung T.: Per aspirin ad astra; ATLA 2009 (37): 45-47