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Tierversuche konnten Patienten nicht schützen

Der Multiple-Sklerose-Wirkstoff Daclizumab (Handelsname Zinbryta) wurde im März 2018 weltweit vom Markt genommen, nachdem es innerhalb kürzester Zeit bei Patienten zu Todesfällen und schwerwiegenden Nebenwirkungen gekommen war. Als Symptome zeigten sich vor allem Hirnhautentzündungen und starke Leberschäden, bis hin zu akutem Leberversagen. ¹ꜟ² Die zuvor durchgeführten Tierversuche an Affen konnten die Patienten nicht davor schützen, denn diese erkrankten nur an Hautveränderungen. Für die Zulassung bei der europäischen Arzneimittelagentur EMA wurde keine weitere Tierart verwendet, da Daclizumab sehr spezifisch nur bei Menschen und Primaten wirkt.³ Über Tierversuche an anderen Tierarten im Rahmen der Entwicklung ist nichts bekannt – sie sind aber wahrscheinlich. Im Interesse von Mensch und Tier muss das Zulassungssystem von Arzneimitteln auf den Prüfstand.

Daclizumab (Zinbryta), ein Medikament gegen Multiple Sklerose (MS) wurde im Juli 2016 uneingeschränkt von der EMA zugelassen. Und das, obwohl in klinischen Studien an Menschen bereits schwerwiegende Nebenwirkungen aufgetreten waren.²

Deutscher Markt extrem attraktiv für Pharmaindustrie

Anders als in anderen Ländern erlaubt das deutsche Gesetz, dass ein neues Medikament direkt nach der Zulassung verkauft werden darf. Und das zu einem Preis, den der Hersteller selbst bestimmen darf. Erst nach einem Jahr muss sich der Hersteller einer Kosten-Nutzen-Bewertung stellen.¹

Der deutsche Markt ist deshalb extrem attraktiv für Pharmafirmen. Sie haben ein großes, wirtschaftliches Interesse daran, dass in kurzer Zeit eine hohe Zahl Patienten ihr neues Medikament verschrieben bekommt. Da wundert es nicht, dass Zinbryta allein in Deutschland 2890 Mal verordnet wurde. Im gesamten Rest der EU waren es ganze 400 Verordnungen!1

Bei Erreichen ihres Ziels hilft den Pharmafirmen eine völlig legale Bestechungsmethode, nämlich die sogenannte Anwendungsbeobachtung. Dabei werden Ärzte und Kliniken dafür bezahlt, dass sie ein bestimmtes Arzneimittel verschreiben und die Anwendung anschließend dokumentieren. Für Zinbryta waren das pro Patient insgesamt 1.320 Euro über 5 Jahre.1

Der Nutzen, den man angeblich durch eine solche Scheinstudie bekommt, nämlich die Erfassung von Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit im klinischen Alltag ist aber genauso eine Farce, wie die Studie selbst. Denn laut Experten sind diese von der Industrie bezahlten Studien wertlos, da ein sehr großer Teil der Ergebnisse nie veröffentlicht wird! Zwar als Studie deklariert, wird eine sogenannte Anwendungsbeobachtung zu nichts anderem als einer Marketingstrategie der Pharmaindustrie. So gab es 2016 alleine 500 Anwendungsbeobachtungen mit denen mindestens 25 Millionen Euro an Ärzte ausgeschüttet wurden.¹

Medikamentenentwicklung von Grund auf erneuern

Im März 2017 zogen die Hersteller Biogen und AbbVie Zinbryta aufgrund der verheerenden Nebenwirkungen weltweit vom Markt zurück, laufende klinische Studien wurden abgebrochen. Viel zu spät, wenn man an die über 2.800 MS-Patienten in Deutschland denkt, die ihre Hoffnung in diese neue Therapie gesteckt haben.¹

Gelernt haben die Verantwortlichen nichts aus diesem erneuten Medikamentenskandal. Dabei wäre dies ein geeigneter Zeitpunkt, das System der Medikamentenentwicklung von Grund auf zu Erneuern. Denn vor den Studien am Menschen werden umfangreiche Tierversuche durchgeführt, die zum Teil vorgeschrieben sind. Und auch bei Zinbryta zeigt sich wieder, dass diese den Patienten nur eine falsche Sicherheit vorgaukeln. Denn die verwendeten Langschwanzmakaken erkrankten „nur“ an Hautveränderungen. Eine schädigende Wirkung auf die Leber oder die Hirnhäute war auch nach längerfristigen Gaben nicht zu finden.²

Kein Wunder, denn Tiere und Menschen unterscheiden sich zumeist erheblich in ihrem Stoffwechsel und dadurch auch in der Wirksamkeit und Schädlichkeit von bestimmten Substanzen. So sind laut einer Studie nur 43 % der Nebenwirkungen von Stoffen auf den Menschen in Mäusen oder Ratten nachvollziehbar.⁴ Ein Münzwurf würde also genauere Ergebnisse liefern.

Künstliche Herstellung von MS an Mäusen

2014 wurde an der Tierärztlichen Hochschule Hannover die Übertragbarkeit der Ergebnisse von drei in der MS-Forschung sehr häufig verwendeten „Tiermodellen“ in Frage gestellt.5 Die künstliche Herstellung von MS bei Mäusen erfolgt dabei z. B. durch Injektion eines speziellen Eiweißes, das dazu führt, dass das Immunsystem die eigenen Nervenzellen attackiert. In einem weiteren „Modell“ wird bei den Tieren eine Virusinfektion des Zentralennervensystems verursacht. Und im dritten Fall werden Mäuse so genmanipuliert, dass ihr Körper einen bestimmten Stoff überproduziert, der bei Entzündungsreaktionen eine zentrale Rolle spielt. All diese künstlich erzeugten Symptome der Tiere haben aber überhaupt nichts mit Ursachen und Entstehungsgeschichte der eigentlichen Krankheit „Multiple Sklerose“ beim Menschen gemeinsam. Diese sind auch nach jahrzehntelanger Forschung weitgehend noch im Dunkeln, da man sich bisher fast ausschließlich auf Ergebnisse aus Tierversuchen verlassen hat. Und so wundert es nicht, dass die erwähnte Studie ebenfalls zu dem Schluss kommt, dass die Ergebnisse aus den Tierversuchen eine extrem schlechte Übertragbarkeit auf den Menschen aufweisen. Und das nicht nur auf den Menschen, sondern auch die einzelnen „Tiermodelle“ untereinander unterscheiden sich erheblich voneinander.⁵

Dabei gibt es heute aussagekräftigere, menschenbasierte Methoden. Zu Zeiten von hochsensiblen, bildgebenden Verfahren, Multiorganchips, und Computersimulation kann die Erforschung von Multipler Sklerose und die Findung möglicher Medikamente viel effektiver, reproduzierbarer und sicherer gestaltet werden.

Solange aber Tierversuche bei der Medikamentenentwicklung als sogenannte „Sicherheitshürde“ eingebaut sind, solange wird die Anwendung neuer Medikamente am Menschen einem Lotteriespiel gleichen. Ein Paradigmenwechsel ist schon lange überfällig!

30.05.2018
Dr. med. vet. Gaby Neumann

Quellen

  1. ARD: Wie Ärzte mit lukrativen Anwendungsbeobachtungen Patienten gefährden. Kontraste vom 27.04.2018
  2. Arznei-Telegramm: Multiple-Sklerose-Mittel Daclizumab (Zinbryta) weltweit vom Markt. 05.03.2018
  3. European Medicines Agency: Zinbryta: EPAR -Summary for the public. Agency Product Number EMEA/H/C/003862
  4. Hartung, T.: Evolution of toxicological science: the need of change. Int. J. Risk Assessment and Management 2017: 20, 21 – 45
  5. Raddatz B.B.R. et al.: Transcriptomic Meta-Analysis of Multiple Sclerosis and Its Experimental Models. PLoS One 2014: 9, e86643