- moderne Forschung ohne Tierversuche

Noch immer wird in manchen Kreisen behauptet, man brauche Tierversuche, um an einem ganzen Organismus Medikamente oder Chemikalien zu testen, um die Stoffwechselvorgänge zu untersuchen und Rückschlüsse über die Wirkweise ziehen zu können. Dabei wird ausgeblendet, dass die Ergebnisse im besten Fall für die jeweilige Tierart gelten, eine Übertragung auf andere Tierarten oder den Menschen hingegen ist schon allein aufgrund der häufig unterschiedlichen Reaktion auf ein und dieselbe Substanz immer ein Glücksspiel mit entsprechend nicht reproduzierbaren, zufälligen Ergebnissen. Jede wissenschaftliche Basis fehlt demnach gänzlich. Einen regelrechten Boom unter modernen Forschern erfahren die sogenannten Biochips, welche man sich wie einen Minimenschen auf kleinster Fläche vorstellen kann. Menschliche Zellen aus verschiedenen Organen werden in kleinen Kompartimenten angesiedelt und wie im echten Kreislauf miteinander verbunden. Mit solchen Systemen lassen sich eine Vielzahl von Stoffwechselfunktionen des menschlichen Körpers abbilden und patientenspezifisch Therapien finden, was im Tierversuch naturgemäß nicht möglich ist.

Wie funktionieren Biochips?

Modernste Techniken erlauben die Schaffung eines künstlichen Körpers, der das menschliche Stoffwechselsystem lebensecht nachstellt. Auf einem nur wenige Zentimeter großen Mikrochip werden Kammern angebracht, die mit lebenden Zellen ausgekleidet sind und so die Organe in Miniformat bilden. Über kleine Schläuche wird das System mit Nährflüssigkeit durchströmt und die Zugabe von potentiellen Medikamenten oder Chemikalien erlaubt Rückschlüsse über die Vorgänge im menschlichen Körper, beispielsweise ob giftige Abbauprodukte entstehen oder schädliche Nebenwirkungen zu erwarten sind. Auch Krankheiten und mögliche Therapiemöglichkeiten lassen sich so erforschen, indem beispielsweise die Miniorgane mit Krebszellen besiedelt werden. Die Zellen stammen aus medizinisch notwendigen Operationen bei Menschen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Chips mit einzelnen Organen, die unter anderem die gezielte Untersuchung der Wirkweise einer Substanz auf die Haut erlauben, sowie Multi-Organ-Systeme, die eine Reihe von Organen wie in einem lebenden System vereinen („Human on a chip“) und Aufschluss über das Zusammenspiel der Organe und Abbauprodukte bei der Verstoffwechslung geben.

Beispiele

Nerven-System

Am Leibniz-Institut für Analytische Wissenschaften, dem Leibniz-Institut für Arbeitsforschung und der Universität Dortmund haben Wissenschaftler ein Nervennetz auf einem Biochip entwickelt. Neuronen bilden auch in einer Zellkultur Fortsätze um miteinander in Kontakt zu treten. Diese Vernetzungsvorgänge sind maßgebend für die Fähigkeit, sich zu erinnern und zu lernen. Stoffe, die bei Neuronen die Vernetzung behindern, bewirken unter anderem Gedächtnisstörungen. Auf dem Biochip wachsen die Neuronen in sechseckigen Silikongittern und die Anzahl und Länge der gebildeten Zellfortsätze lässt sich in einem automatisierten Verfahren auswerten. (1)

Lungen-System

Wissenschaftler der Harvard Universität, USA, haben in einem System aus winzigen Mikrokanälchen aus flexiblem Kunststoff menschliche Lungenzellen angesiedelt. Die Kanälchen lassen sich durch ein Vakuum strecken, was die natürliche Atmungsbewegung der Lungenbläschen simuliert. Eine Testsubstanz wie beispielsweise ein Nanopartikel aus Siliziumoxid wird mit einem Luftstrom in das System geleitet, um den Übergang von Substanzen in der Atemluft in die Lungenbläschen nachzustellen. (2) Weiter wird ein Herz-Lungen-Modell entwickelt, das es ermöglicht, pharmakologische Substanzprüfungen besonders effizient durchzuführen. Hierbei werden Techniken aus der Computerindustrie mit Verfahren des Tissue Engineering, mit dem dreidimensionales Gewebe konstruiert wird, miteinander verknüpft und die physiologischen Funktionen einer atmenden Lunge und eines schlagenden Herzens realistisch simuliert. (3)

Haut-System

Eine vollautomatische Untersuchungsmöglichkeit von Kosmetika auf die Haut haben Wissenschaftler der FH Jena entwickelt. Auf dem Chip werden menschliche Hautzellen angesiedelt. Mit elektrochemischen Methoden und mit Hilfe einer Kamera wird gemessen, wie die Zellen auf eingeschleuste giftige oder reizende Substanzen reagieren. (4) Im Rahmen des Projektes „FASTEST“ der FH Jena wurde ein Chip-System konstruiert, an dem pflanzliche Kosmetikinhaltsstoffe getestet werden können. Durch kleine Schläuche werden Pflanzenextrakte auf die auf dem Chip aufgetragenen Hautzellen gegeben. Nach zwei Tagen wird ausgewertet, ob die Testsubstanz reizende Wirkung hat, allergische Reaktionen auslösen kann oder giftig ist. Hierfür wird anhand von elektrochemischen Untersuchungen in Kombination mit Beobachtungen durch eine Kamera das Ausmaß des Schadens bewertet, den die Zellen genommen haben.

Nieren-System

Koreanischen Wissenschaftlern ist es gelungen, die Zellen von Nierentubuli in vitro wachsen zu lassen. Die Nierentubuli sind dünne Röhren in den Nierenkörperchen, die das Blut filtern und den Harn produzieren. Diese Funktion behalten die Zellen auch in der dreidimensionalen Anordnung auf einem Chip bei. Die Zellen werden mit einer Flüssigkeit durchströmt und filtern sie durch eine Membran. So kann erforscht werden, ob und wie die Nierenzellen Wirkstoffe ausscheiden. (5) Für den Prototyp wurden allerdings Rattenzellen verwendet. Aus ethischen Gründen und aufgrund der klinischen Relevanz wären hier Tests mit menschlichen Nierenzellen angebracht und zielführend.

Arterien-System

Kanadische Wissenschaftler haben auf einem Mikrochip kleine Arterienabschnitte langzeitkultiviert. Das System eignet sich zur Überprüfung von herz- und kreislaufwirksamen Medikamenten und es kann automatisiert werden, d.h. eine große Anzahl potentieller Wirkstoffe kann in kürzester Zeit durchgetestet werden. Zu kritisieren ist auch hier, dass Blutgefäße von Mäusen verwendet wurden, was aus ethischen und wissenschaftlichen Gründen abzulehnen ist. Der Einsatz von menschlichen Blutkapillaren wäre dagegen sinnvoll. (6)

Darm-System

Forscher des Wyss Institute for Biologically Inspired Engineering an der Harvard-Universität in Boston, Massachusetts, USA, haben einen menschlichen Minidarm entwickelt. Das Chip-System besteht aus kleinen Schläuchen, die innen mit menschlichen Dünndarmzellen ausgekleidet werden. Außen fließt eine Flüssigkeit vorbei, die das Blut in den kleinen Blutgefäßen des Darms simuliert. So kann der Übergang von Substanzen aus dem Blut in den Darm studiert werden. Im Darmlumen werden Bakterien der menschlichen Darmflora angesiedelt, die bei der Verstoffwechslung von Substanzen und der Entstehung vieler Krankheiten eine bedeutende Rolle spielen. Mittels einer Vakuumpumpe werden die Schläuche gestreckt und gestaucht, um die Darmperistaltik nachzuahmen. Darmerkrankungen wie Morbus Crohn und Behandlungsmöglichkeiten können so erforscht werden. (7)

Multi-Organchip: der Minimensch

An der Technischen Universität Berlin haben Wissenschaftler in Kooperation mit Tissues Doppelorganchips aus Haut und Leber oder aus Leber- und Nervengewebe entwickelt, sowie einen Vier-Organ-Chip, der aus Darm, Leber, Niere und Haut besteht und einen Sieben-Organ-Chip. Auf diesen Modellen können Zellen aus u.a. Leber, Verdauungstrakt, Gefäßsystem, Haut, neuronalem Gewebe, Niere und Haarfollikel angesiedelt werden. Die menschlichen Organe werden um den Faktor 100.000 verkleinert und mit dem Blutkreislauf in die richtige Relation gesetzt, so dass eine systemische Beobachtung toxischer Wirkungen an einem humanen Modell möglich ist. Derzeit werden ein Modell für Haare und Zähne sowie ein 10-Organ-Chip entwickelt. Künftig soll durch die Verwendung von Zellen männlicher und weiblicher Patienten noch realitätsnähere Forschung betrieben werden. (8, 9)

Förderpolitik

Die Nationalen Gesundheitsinstitute in den USA (NIH) haben 2012 verkündet für umgerechnet rund 60 Millionen Euro (70 Millionen Dollar) die Entwicklung von Modellen menschlicher Organe auf Biochips zu fördern. Die NIH gewähren in einem auf fünf Jahre ausgelegten Förderprogramm 17 amerikanischen Forschergruppen Mittel für die Entwicklung verschiedener dreidimensionaler Biochips, mit denen sich mittels lebenden Gewebes die Funktion und Struktur menschlicher Organe wie Herz, Niere oder Lunge lebensecht nachbilden lassen. (10) Die Defense Advanced Research Projects Agency (DARPA), die im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums den technologischen Fortschritt der USA sichern soll, stellt die gleiche Summe zur Verfügung. (11) Die deutsche Politik hingegen ist gegenüber einer solch anwendungsorientierten Forschung wenig aufgeschlossen und hält trotz der mangelnden Aussagekraft weiter am Tierversuch fest. Zwar wird das oben genannte Hautmodell der FH Jena mit 1,3 Millionen Euro vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie gefördert. Legt man jedoch die Dimensionen, die aus Fördertöpfen in Tierversuche fließen, in die Waagschale, wird das monetäre Ungleichgewicht deutlich. So werden Tierversuche jedes Jahr mit Milliarden Steuergeldern subventioniert und allein der Bau einzelner Tierversuchslabors kostet Beträge in zweistelliger Millionenhöhe. Dagegen erfährt die sogenannte Alternativmethodenforschung (3 R – reduce, refine, replace) eine marginale Förderung von durchschnittlich nur 4-5 Millionen Euro jährlich. Und selbst diese Forschung beinhaltet nach wie vor Tierversuche, die lediglich auf die Reduzierung der Tierzahl und des Leids abzielen oder im besten Fall auf den vollständigen Ersatz, d.h. der Tierversuch als per se unwissenschaftliches System wird gar nicht erst in Frage gestellt.

Vorzüge menschbasierter Systemforschung

Tierversuche sind langwierig und kostspielig. Untersuchungen, die in Tierexperimenten oft mehrere Wochen oder Monate dauern, können mit Organchips in einem Bruchteil dieser Zeit Ergebnisse liefern, was letztlich Zeit und Kosten spart. Biochips haben auch hinsichtlich der Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen unschlagbare Vorteile. Denn bei Tierversuchen wird zwar am gesamten Organismus geforscht, aufgrund der Unterschiede in Stoffwechsel und Körperbau gleicht die Übertragung der am Tier gefundenen Erkenntnisse auf den menschlichen Körper jedoch einem reinen Zufallsfund. Was für das Tier unschädlich ist, kann beim Menschen schwere Reaktionen hervorrufen oder auch umgekehrt. Mit Biochips lassen sich gezielt Untersuchungen an menschlichen Zellen, die zu einem gesamt-Miniorganismus zusammengeschaltet sind, vornehmen und erlauben so zuverlässige Rückschlüsse über die Wirkweise einer Substanz im menschlichen Körper. Die Auswahl der Zellen erlaubt sogar unter anderem alters- und geschlechtsspezifische Untersuchungen.

Fazit

Die wissenschaftliche Faktenlage, die das tierexperimentelle System neben der ethischen Fragwürdigkeit als unzuverlässig offenbart und gleichzeitig das enorme Potential der tierversuchsfreien Forschung verdeutlicht, liegt klar auf der Hand. Das Festhalten am Tierversuch ist demnach verantwortungslos gegenüber leidensfähigen Tieren, ebenso gegenüber Menschen, da mit Tierversuchen irreführende Ergebnisse produziert werden, die letztlich den medizinischen Fortschritt aufhalten. Im Sinne einer humanen Forschung und Wissenschaft müssen Verfahren wie Biochips mit höchster Priorität vorangetrieben werden, um krankheits- und patientenspezifische Erkenntnisse gewinnen zu können, welche die Grundlage eines effektiven und ethischen Tier- und Menschenschutzes sind.

01.09.2015
Dr. med. vet. Corina Gericke

Quellen

(1) Nervennetz auf dem Biochip statt Tierversuche, du und das tier, 2/2010, S. 18
(2) Fachhochschule in Jena entwickelt "das Labor" auf dem Chip, Thüringer Allgemeine, 21.07.10
(3) “Heart-Lung Micromachine" for drug safety testing receives funding,Pressemitteilung vom 4.10.2010, Abruf am 13.8.2015
(4) Alternativen sind möglich,Pressemitteilung vom 20.07.2010, Abruf am 19.8.2015
(5) Kyung-Jin Jang at al.: A multi-layer microfluidic device for efficient culture and analysis of renal tubular cells. Lab Chip 2010, 10, 36, DOI:10.1039/b907515a
(6) Günter, A. et al.: A microfluidic platform for probing small artery structure and function. Lab Chip 2010, 10, 2341-2349
(7) Harvard's Wyss Institute creates living human gut-on-a-chip, Pressemitteilung vom 27.3.2012, Abruf am 19.8.2015
(8) Multiorganchip statt Tierversuche, Laborwelt vom 25.2.2015
(9) Weltkongress „Alternativmethoden“, Abruf am 17.8.2015
(10) NIH funds development of tissue chips to help predict drug safety, Pressemitteilung vom 24.7.2012, Abruf am 13.8.2015
(11) Medikamentenentwicklung: Mini-Mensch in Chip-Format. Handelsblatt, 7.1.2014