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Die Coronavirus-Pandemie COVID-19 ist eine wichtige Chance, die aktuelle Vorgehensweise in der medizinischen Forschung zu überdenken. Angesichts dieses viralen Tsunamis hatten Wissenschaftler keine Zeit, eine oder mehrere Tierarten zu finden, die sich als „Modell“ für die Erforschung der Krankheit im Labor wirklich eignen würden. 

Für die Behandlung der saisonalen Grippe setzen Ärzte bekannte Maßnahmen wie Impfstoffe und antivirale Medikamente ein, die die Symptome lindern und die Dauer der Krankheit verringern, um die Infektionsraten zu senken. Angesichts einer Notsituation sind aber die Forscher dazu gezwungen, neue Behandlungen direkt an Patienten zu testen. Es ist zu beachten, dass es sich nicht um ungetestete Medikamente handelt, sondern um Arzneimittel, die für andere Krankheiten verwendet werden, oder um Kombinationen von Arzneimitteln, die bereits auf dem Markt sind. 

Fehlerrate von 90% bei Tierversuchen

Der Begriff „klinische Studie“ bezeichnet die Erprobung neuer Medikamenten am Menschen. Ziel ist es, die Wirksamkeit einer Behandlung nach einer Genehmigung durch Ethikkommissionen und einer Einverständniserklärung des Patienten zu bewerten. Einer klinischen Studie gehen normalerweise mehrere „präklinische“ Schritte voraus, um die Verträglichkeit und Wirksamkeit der neuen Behandlung zu bewerten. Einer dieser Schritte ist die Durchführung von Tierversuchen. Diese regulatorische Anforderung geht auf den Nürnberger Kodex von 1947 zurück und ist bis heute die Norm in der nationalen und internationalen Gesetzgebung. Nach Angaben der US-amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) scheitern jedoch neun von zehn Medikamente, die die erforderlichen Tierversuche erfolgreich bestanden haben, in klinischen Studien mit Menschen (aufgrund mangelhafter Wirksamkeit oder aufgrund von Nebenwirkungen, die bei Tieren nicht beobachtet wurden). Dies entspricht eine Fehlerrate von 90% oder eine Vorhersagerate von 10% der Tierversuche. 

Wissenschaftler erkennen die Unzuverlässigkeit von Tierversuchen

Interessanterweise erkennen auch die Wissenschaftler, die direkt an der Erforschung einer Behandlung oder eines Impfstoffes gegen COVID-19 beteiligt sind, dass Tierversuche unzuverlässig sind, um menschliche Reaktionen vorherzusagen. Dazu einige Zitate: Tal Zaks, medizinischer Direktor von Moderna, einem erfolgreichen Biotech-Unternehmen in den USA, erklärt: „Ich glaube nicht, dass der Nachweis in einem Tiermodell der entscheidende Schritt ist, der zu einer klinischen Studie führt“ (1). Barney Graham, Direktor des Nationalen Instituts für Allergien und Infektionskrankheiten (NIAID), ebenfalls in den USA, betont, dass die üblichen Labormäuse sich mit dem neuen Coronavirus nicht wie Menschen anstecken lassen (2). Schließlich weist Karen Maschke, Redakteurin der Zeitschrift Ethics & Human Research, darauf hin, dass Tierstudien oft schlechte Vorhersager dafür sind, was beim Menschen funktionieren wird (1). 

Natürlich ist die Herstellung eines neuen Impfstoffs nicht ohne Risiko. Das ist der Grund für den Einsatz evidenzbasierter Technologien, wie z. B. „personalisierte“ Medikamente und Impfstoffe. Ärzte und Forscher bemerken tatsächlich, dass das Infektionsrisiko durch dieses Virus nicht gleich hoch für alle Menschen ist. Warum sind Kinder zum Beispiel weit weniger anfällig als ältere Menschen? Die gesammelten klinischen Daten stellen die beste Grundlage für die Entwicklung personalisierter Behandlungen und Impfstoffe dar, die wirksamer und mit weniger Nebenwirkungen verbunden sind als herkömmliche Behandlungen. 

Eine einmalige Gelegenheit, das „Tiermodell“ loszuwerden

Dies ist eine einmalige Gelegenheit, das „Tiermodell“, ein Konzept aus dem 19. Jahrhundert, loszuwerden und unsere Anstrengungen auf die betroffene Spezies, nämlich den Menschen, zu konzentrieren. Der Versuch, eine menschliche Krankheit bei einem Tier zu reproduzieren, ist ein völliges Missverständnis der Komplexität unseres Körpers, sowie der verschiedenen komplexen Systeme unseres Organismus, wie beispielsweise des Immunsystems. Jede Tierart ist ein komplexes System und kann daher nicht als Modell für eine andere dienen. Selbst beim Menschen gibt es wichtige Unterschiede hinsichtlich der Anfälligkeit für COVID-19, z.B. zwischen Kindern und Erwachsenen oder Männern und Frauen. Anstatt mit Frettchen, Makaken oder Mäusen zu experimentieren, wäre es vernünftiger und weitaus wissenschaftlicher, die Hochleistungstechnologien des 21. Jahrhunderts zu verwenden und erweitern.

In-vitro-Tests viel relevanter als Tierversuche

Das „MIMIC“ (Modular IMmune In vitro Construct) ist ein Beispiel für ein In-vitro-Modell des menschlichen Immunsystems (3). „Die Informationen, die diese Testverfahren liefern, gehen weit über das hinaus, was man aus einer Mausstudie bekommen würde“, sagt Michael Rivard, Vizepräsident für Unternehmensentwicklung bei VaxDesign, „sowohl weil sie menschenbasiert sind, als auch weil ein Effekt über ein Spektrum von Genotypen zu beobachten ist“ (4). 

Fortgeschrittene In-vitro-Technologien (wie MIMIC, „Organe-auf-dem-Chip“ und andere) müssen eine Vorhersagerate von 85 bis 90% anstreben, um auf regulatorischer Ebene akzeptiert zu werden, während das „Tiermodell“ eine Vorhersagerate von nur 10% nach Angaben der FDA erreicht. Eine Teststrategie, die auf einer Reihe von In-vitro-Tests mit menschlichem Material basiert, wäre weitaus relevanter als Tierversuche. Jetzt ist die Zeit für einen Paradigmenwechsel in der biomedizinischen Forschung, wenn wir unsere Gesundheit angesichts neu auftretender Krankheiten des 21. Jahrhunderts bewahren wollen. Vielleicht wird die COVID-19-Pandemie dazu beitragen, einige unserer veralteten wissenschaftlichen Praktiken und überholten Vorschriften in Frage zu stellen. 

15.4.2020
Autor: Dr. med. vet. Andre Menache, Vorsitzender von Antidote Europe
Übersetzung: Dr. rer. nat. Dilyana Filipova

Quellen

(1) Boodman E. Researchers rush to test coronavirus vaccine in people without knowing how well it works in animals. STAT, 11.03.2020 
(2) Villasanta A. Coronavirus Update: Vaccine Skips Important Animal Testing Phase, Straight To Human Trials. International Business Times, 16.03.2020
(3) Higbee RG et al. An immunologic model for rapid vaccine assessment – a clinical trial in a test tube. Altern Lab Anim 2009; 37(1_suppl): 19-27
(4) VaxDesign offers an alternative to animal studies. FierceVaccines, 03.04.2008